Dienstag, 30. November 2010

Think big - Teil 2

Wir haben in Teil 1 dieses Beitrages gesehen, dass es einen unleugbaren Zusammenhang zwischen der Größe der Reisemannschaften und deren Platzierung in Meisterschaften nach einem "x-beste"-Modus gibt. Größere Reisemannschaften besitzen hier einen systematischen Vorteil, so dass eben nicht mehr gewährleistet ist, dass letztendlich der sportlich Bessere gewinnt. System bedingt platziert sich hierbei ein guter Schlag, der zudem eine relativ große Reisemannschaft besitzt, vor dem besseren Schlag mit deutlich kleinerer Reisemannschaft.

Diese Tendenz ist allgemeingültig! Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Platzierungen einer Meisterschaft, insbesondere, wenn wir nur eine kleine Gruppe von Züchtern betrachten (zum Beispiel auf RV-Ebene), dies klar widerspiegeln. Einzelplatzierungen unterliegen der natürlichen Streuung und so gibt es viele sehr gute Schläge, die aufgrund ihrer hervorragenden Reiseleistung verdient auf dem ersten Platz zu finden sind, auch wenn sie eine große Reisemannschaft besitzen. Ihre Platzierungen würden sich auch bei einem anderen Modus nicht verschlechtern würde. Und das ist auch gut so! Denn eine Änderung des Meisterschaftsmodus weg von einem "x-besten"-Modus darf nie das Ziel haben, dass der Beste nun schlechtere Chancen als alle Schlechteren erhält.

Im Gegenteil: Ziel einer Änderung bestehender "x-Beste"-Modi kann und muss es sein, die Meisterschaften statt dessen so zu gestalten, dass tatsächlich der sportlich Beste die größten Chancen erhält, auch ganz oben zu stehen, wobei auch dann immer ein wenig Glück zum Erfolg des Tüchtigen gehört. Erst dann haben wir eine Meisterschaft die in einem möglichst fairen Wettbewerb ausgetragen wird, und bei der Sport gewinnt. Erst dann ist der ganz oben Platzierte auch wirklich ein Meister! Und deshalb sollten an einer Änderung eigentlich alle Freunde dieses Sportes interessiert sein. Die wirklich meisterlichen Schläge brauchen eine Veränderung hier nicht zu fürchten, sie können sich sogar darauf freuen, dass sich alle Wettbewerber zukünftig auf vergleichbarer Augenhöhe begegnen.


Dennoch ist eine Veränderung dieser seit Jahrzehnten in Deutschland gepflegten Meisterschafts-Modi nicht einfach. Die meisten Züchter, auch viele mit kleinen Reisemannschaften, haben sich derart daran gewöhnt, dass sie sich eine Veränderung gar nicht mehr vorstellen können und wollen. Auch ist es so, dass so eine Diskussion innerhalb einer RV, FG oder eines RegV immer mit Kontroversen einhergehen wird. Und auf diese Kontroversen haben viele Züchter einfach keine Lust. Dabei enstammen diese beiden Abwehrreaktionen aus dem Blickwinkel der BESTEHENDEN Züchterschaft und es wird dabei völlig vergessen, dass es heute mehr denn je darum geht, sich auch Gedanken über die Personen zu machen, die ZUKÜNFTIGE Züchter sein könnten.

Halten wir denn wirklich unser Hobby für einen attraktiven und fairen "Sport", obwohl wir, um vorne mitzuspielen, bei einem Winterbestand von 50 oder weniger Tauben nur sehr begrenzte Chancen haben?
Denken wir wirklich, die Aussicht auf Bestandsgrößen jenseits von 100 Tieren habe für viele an unserem Hobby Interessierte keine abschreckende Wirkung?
Denken wir tatsächlich jeder Interessierte habe die Möglichkeit eine Schlaganlage von über 8m Länge in seinem Vorgarten zu platzieren?

Wer sich aktiv gegen eine Veränderung von "x-beste"-Modi stellt, ist aus meiner Sicht im positiven Falle zu träge und zu uninteressiert, um über die Zukunft unseres Sportes nachzudenken. Im negativen Falle, insbesondere wenn er derzeit mit großer Reisemannschaft relativ weit oben in der "x-beste"-Meisterschaft steht, hat er einfach nur ANGST vor dem verschärften Wettbewerb und dem drohenden Verlust liebgewonnener Pfründe. Solche Schläge sind dann jedoch KEINE wahren Meister! Ein wahrer Meister braucht diese Veränderung nicht zu fürchten.


In meiner RV wird die eigentliche RV-Meisterschaft nach dem Modus der RV-Meisterschaft des Verbandes mit acht vor jedem Flug vorzubenennenden Tauben ausgeflogen, ein guter Ansatz. Es existieren jedoch jenseits dieser einen Meisterschaft jedoch immer noch "x-beste"-Modi bei der Jährigen-Meisterschaft, der Weibchen-Meisterschaft, der Jungtauben-Meisterschaften und der früheren RV-Meisterschaft, die heute RV-Pokalmeisterschaft genannt wird. Für manche ist die RV-Pokal-Meisterschaft immer noch die "eigentliche" RV-Meisterschaft. Im Folgenden möchte ich anhand der konkreten Daten aus meiner RV am Beispiel der "5 besten Tauben"-Pokal-Meisterschaft die reale Situation von "x-beste"-Modi auf RV-Ebene und deren Auswirkungen sehr konkret beleuchten.

Die Ergebnisse sind exemplarisch, jedoch ganz sicher nicht nur für diese betrachtete RV gültig. Ich bin mir sicher, dass ähnliche Auswertungen in nahezu jeder Organisation ähnliche Tendenzen ergeben werden. Jeder Leser ist gerne dazu aufgerufen dies zu überprüfen:
Die Abbildung 1 kennen wir bereits aus Teil 1 dieses Blogartikels. Es wurden hierbei aber die Platzierungen ALLER Schläge der Größe ihrer Reisemannschaften gegenüber gestellt und jeder Schlag mit einem Punkt dargestellt (detaillierte Erklärung siehe Teil 1). Die von links oben nach rechts unten abfallende Tendenz dieses Punktehaufens deutet wiederum auf den Zusammenhang hin, dass auch in dieser RV die größeren Schläge sich besser platzieren. Doch VORSICHT! Dies alleine bedeutet noch nicht zwingend, dass man daraus ableiten kann, große Schläge hätten einen systematischen Vorteil. Der Blick in Abbildung 2 verdeutlicht warum:

Wenn wir die Reiseleistung ALLER Schläge im Zusammenhang mit ihrer Größe darstellen, erkennen wir, dass in dieser RV tatsächlich die größeren Schläge tendenziell auch die besseren Reiseleistungen erbringen. Der Trend in Abbildung 2 zeigt deutlich von links unten nach rechts oben und belegt damit diesen Zusammenhang. Somit ist eine Erklärung für die bessere Platzierung vieler der größeren Schläge einfach in ihrer tatsächlich auch besseren sportlichen Leistung zu sehen. Und dies sollte man auch auf keinem Fall übersehen!

Jedoch erinnern wir uns, dass wir bei unseren Betrachtungen in Teil 1 nur die besten 8,4% aller Schläge beleuchtet haben und damit eine in ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit vergleichbaren Gruppe. Erst dadurch kann deutlich gezeigt werden, wie sich ein "x-beste"-Modus auswirkt! In den Abbildungen 1 und 2 haben wir jedoch ALLE Schläge der betrachteten RV eingetragen. Es sollte daher nicht überraschen, dass gerade erfolglosere Schläge eventuell auch in Folge der aus der Erfolglosigkeit resultierenden geringeren Motivation  weniger Tauben halten. Zudem beenden einige Schläge die Reise vorzeitig, und belegen damit natürlich einen hinteren Platz. Wollen wir also die Folgen eines "x-beste"-Modus beleuchten, müssen wir uns auch hier zunächst einmal auf vergleichbare Schläge beziehen.

Aus diesem Grunde habe ich in Abbildung 3 alle Schläge mit einer überdurchschnittlichen Reiseleistung (mehr als 40%), die zudem alle stattgefundenen Flügen bestritten haben, betrachtet. Dies waren 11 Schläge von insgesamt 43 Schägen, also grob ein Viertel aller Schläge der RV. Aufgrund des schwierigen Reisejahres 2010 mit zwei Hitzewochenenden und einem sehr schweren 600er Flug existieren noch drei weitere Schläge mit einer Reiseleistung von mehr als 40%, die jedoch zwei oder gar drei Flüge nicht beschickten und somit nicht mit in die Betrachtungen aufgenommen werden konnten:
Wie bereits in Abbildung 2 wurden in Abbildung 3 die Reiseleistungen der Schläge in Relation zu den Größen ihrer Reisemannschaften gesetzt. Und ich muß ehrlich zugeben, dass mich die Eindeutigkeit des Ergebnisses selber überrascht hat. Denn selbst hier, bei Betrachtung von nur diesen 11 Schlägen, also einer sehr kleinen Stichprobe zeigt sich das gleiche Ergenis wie bereits in Teil 1 für die leistungsfähigeren Schläge des Regionalverbandes: Es besteht kein Zusammenhang zwischen Reiseleistung und Größe eienes Schlages. Allerdings ist dies auch ein wenig Zufall, denn bei nur 11 Schlägen hätte es durchaus sein können, dass ein leichter Trend in die eine oder andere Richtung hätte erkennbar sein können. Ein einzelner besonders erfolgreicher und gleichzeitig überaus großer oder überaus kleiner Schlag wirkt sich in so einer kleinen Stichprobe halt stärker aus. Insgesamt ist jedoch auch auf RV-Ebene zu erwarten gewesen, dass kein besonders deutlicher Zusammenhang zwischen Größe und Reiseleistung besteht, solange wir prinzipiell vergleichbare Schläge betrachten.
Wenn wir nun diese 11 Schläge wie in Abbildung 4 entsprechend ihrer Platzierungen  in der 5-beste-Tauben-Meisterschaft eintragen, so erkennen wir hier einen sehr deutlichen Trend. Wiederum sind die Schläge mit größeren Mannschaften deutlich besser platziert. Die Platzierungen dieser 11 Schläge erstrecken sich von Platz 1 bis 14, da sich unter den ersten 14 Plätzen noch zwei große Schläge befinden, die jedoch unterhalb der betrachteten 40% Marke mit ihrer Reiseleistung lagen (an Platz 15 lag zudem ein Schlag, der nur 10 von 12 Flügen beschickte).
In der Tendenz unserer RV versprich eine um ca. 3 Tauben größere Mannschaft eine um einen Platz bessere Platzierung in dieser  5 beste-Tauben RV-.Pokalmeisterschaft.


Die Verhältnisse sind hier also in der Tendenz völlig identisch mit denen der zuvor betrachteten RegV-Meisterschaft: Selbst eigentlich erfolgreiche Schläge belegen in einer "5-beste-Tauben"-Meisterschaft einen Platz der ganz maßgeblich durch ihre Mannschaftsgröße und nicht nur durch ihre Reiseleistung bestimmt wird!



Da ich immer wieder schreibe, dass ein Satzzahl abhängiger Modus diese Situation deutlich verbessert, ist es nun an der Zeit dies auch zu überprüfen. Für die in Teil 1 betrachteten RegV-Meister war mir eine derartige Auswertung aufgrund fehlender Daten leider nicht möglich. Vor etwa 30 Jahren, entsprachen 5 Zähler etwa einem Fünftel der größeren Reisemannschaften. Ein Modus bei dem je 5 Tauben in der Reisemannschaft ein Zähler gewertet wird, erscheint mir also durchaus eine sinnvolle Anforderung.

Ich habe nun also die Platzierung ermittelt, die jeder Schlag belegt hätte, wenn je angefangener 5 gesetzter Tauben eine Taube als Zähler gewertet worden wäre. Die Ergebnisse für die 15 ersten Plätze zeigt Tabelle 1. "Züchter 1" meint in dieser Tabelle den Züchter, der in der "5-beste-Tauben"-Meisterschaft an Platz 1 lag. Die sich aus der unterschiedlichen Zählerzahl ergebenden Preiszahlen für die Zähler wurden der besseren Vergleichbarkeit halber auf 5 Tauben umgerechnet (normiert):


Zunachst fällt auf, dass die ersten drei Meister trotz des anderen Modus unverändert bleiben. Hier haben sich also auch bereits in der "5-beste-Tauben"-Meisterschaft tatsächlich die besten drei Schläge vorne platziert. Insbesondere Züchter 1 zeigte ein derart überragende Leistung, dass er sich immer noch souverän vom Rest distanzieren konnte. Er brachte zwar mit 70 Tieren eine recht große Reisemannschaft auf dem ersten Flug an den Start, doch diese Mannschaft war in ihrer Breite deutlich besser, als die aller anderen Züchter, was sich auch in der höchsten Reiseleistung widerspiegelt.

An dieser Stelle könnten voreilige Kritiker meiner Argumentation anfügen, dass sich also gar nichts geändert habe. Doch nichts wäre falscher als das. Denn auch hier können Einzelergebniisse nicht als Gegenargument für einen übergreifenden Trend herangezogen werden. Wir müssen auch hier eine größere Menge an Schlägen betrachten. Schauen wir die weiteren Platzierungen in Tabelle 1 an, so wird deutlich, dass sich sogar eine ganze Menge getan hat. Als herausragendes Beispiel sei an dieser Stelle auf den "Züchter 14" verwiesen, der um ganze 9 Plätze bis auf Rang 5 gestiegen ist. Er gehörte mit nur 20 Reisetieren zuvor trotz guter Reiseleistung und etwas Glück mit seinen Zählern zu den Schlägen, die unter ihrer kleinen Größe "litten".

Sehr viel deutlicher wird die grundlegende Änderung durch diesen Satzzahl abhängigen Modus jedoch, wenn wir uns noch einmal die eben betrachteten 11 Schläge entsprechend einer Darstellung wie in Abbildung 4 anschauen:
Die Platzierungen erstrecken sich nun nur noch auf die Ränge 1 bis 11, was entsprechend der Auswahl dieser Schläge (größte Reiseleistung, Teilnahme an allen Flügen) auch ihrer realen Leistung, die ja vor dem Rest der RV liegt, entspricht. Zudem sind zwar die ersten drei Plätze identisch geblieben, aber dennoch ist keine eindeutige Tendenz in Richtung besserer Platzierung durch größeren Reisemannschaften mehr zu erkennen. Der Trend verläuft bei dieser Meisterschaft nun waagerecht. Exakt dies sollte erreicht werden: Vergleichbare Chancen für alle!

Dass dennoch die ersten drei Plätze identisch geblieben sind, ist gut so. Es beweist nur, dass diese Schläge wirklich die Besten waren. Eine Modusänderung soll schließlich nicht zum Ziel haben, die wirklich Besten von der Spitze zu "vertreiben". Es zeigt auch, dass wirklich gute Schläge keine Angst vor der Einführung eines gerechteren Satzzahl abhängigen Modus anstelle eines "x-beste"-Modus haben müssen.

Ein weiterer positiver Effekt eines Satzzahl abhängigen Meisterschafts-Modus sollte noch unbedingt erwähnt werden. Zwar domierte in dieser RV ein Schlag den Wettbewerb, jedoch lagen die Schläge auf den Plätzen 2 bis 11 im "x-beste-Modus" 20% auseinander (48 zu 40 Preise für die Zähler). Im neuen Klassement beträgt die Spanne zwischen den Plätzen 2 und 11 nur noch grob 12% (43,4 zu 38,5 Preise für die Zähler).

Das heißt, dass die Spanne zwischen den platzierten Schlägen infolge eines satzzahlabhängigen Modus im Vergleich zu einem "x-beste-Modus"deutlich kleiner wird, und so die Meisterschaft für eine größere Anzahl von Schlägen noch bis zum Schluss offen ist. Schließlich wird der Abstand zwischen den Schlägen nun nur noch durch die wahren Leistungsunterschiede bestimmt und nicht noch zusätzlich durch die Größenunterschiede der Reisemannschaften verstärkt.

In unserem Beispiel sind die Schläge inklusive des Platzes 11 nun auf Schlagdistanz zum zweiten Platz der Meisterschaft. So etwas motiviert dann auch ganz gewiss einige Schläge mehr, als bisher bis zum Ende der Saison durchzusetzen. So hätten beispielsweise "Züchter 15" und Züchter 20 auf den Plätzen 4 und 5 gelegen, als sie sich entschlossen die Reise nach nur 10 Flügen einzustellen. Ob sie dann auf die letzten Flüge ihre Tauben zu hause gelassen hätten, ist mehr als fraglich.

Doch sogar, wenn wir die Platzierungen aller Schläge der RV im rahmen der Satzzahlabhängigen Meisterschaft betrachten, ist dieses "Zusammenrücken" klar erkennbar. In Abbildung 1 ergab sich ein Trend mit einer Steigung von 1,014. Unter dem neuen Meisterschafts-Modus würde sich diese Tendenz auf 0,5062 abmildern, quasi halbieren. Aber da wir hier alle Schläge der RV betrachten, auch die weniger leistungsfähigen,  die in dieser RV wie gesehen auch eher kleinere Reisemannschaften halten (siehe Abbildung 2), liegen nach wie vor viele Schläge mit kleinen Reisemannschaften auf den hinteren Plätzen. Und dies aufgrund ihrer schlechteren sportlichen Leistungen auch recht so. Doch ihr Abstand zur Spitze hat sich reduziert, und es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass dies motivierend auf die betreffenden Züchter wirken kann.

Entgegen der These, dass die Abschaffung der "x-besten-Modi" schädlich für die RVen sein könnte, da eventuell weniger Tauben gesetzt würden, wäre ihr Effekt positiv für die RVen. Denn da das Teilnehmerfeld näher zusammen rückt, werden weniger Züchter vorzeitig entmutigt das Reisen einstellen. Und es ist die Zahl der Züchter, die letztendlich für die Finanzierung des Transportes wesentlich ist, nicht die Zahl der Tauben! Zudem sind Züchter, die realistisch etwas erreichen können auch zufriedener.

Die Wirkungen einer Umstellung werden sich jedoch kaum spontan vollumfänglich zeigen. Jahrzehntelang geübtes Verhalten ist nicht über Nacht vergessen. Doch wie bereits mehrfach geschrieben,. solche eine Maßnahme darf nicht nur ausschließlich aus dem Blickwinkel der aktuellen Züchterschaft betrachtet werden, sondern auch vor dem Hintergrund wie wir unseren Sport für potentielle Interessenten gestalten wollen.

Sonntag, 28. November 2010

Think big

Wer bereits einmal Maschinen, Haushaltsgeräte oder Autos aus den USA mit Europäsichen Modellen verglichen hat, versteht sehr schnell, warum die von mir gewählte Überschrift (frei übersetzt "denke im großen Maßstab") dieses Blog-Beitrags nur aus Armerika stammen konnte.

Betrachten wir die Entwicklung der Größe der unserer Winterbestände an Brieftauben, so könnte man annehmen wir hätten uns die Amerikaner zum Vorbild gemacht. Während 1982 die durchschnittliche Bestandsgrößen im Raum Dortmund noch bei etwa 44 Tieren lag (Quelle: "Leben mit Brieftauben", S.226, Westfalen Verlag), so übersteigen heute bereits nur die Reisemannschaften vieler Züchter diese Zahl. Nicht zur Mannschaft gehörige Weibchen und Zuchttauben sind dabei noch gar nicht mitgezählt. Vermutlich liegt eine mittlere Bestandgröße heute etwa doppelt so hoch, wie noch vor dreißig Jahren, wobei insbesondere die Anzahl der sehr großen Bestände zugenommen hat.

Ich persönlich bin der Meinung, dass diese Entwicklung an sich auch kein Problem darstellt, solange jeder Züchter und jeder der es werden möchte, frei entscheiden kann, wie groß sein eigener Bestand sein soll und er damit glücklich und zufrieden im Taubensport werden kann. Denn dann wird dieser Züchter dem Sport zumindest schon einmal nicht nicht aus diesem Grunde verloren gehen.

Es ist ofmals so, dass viele Züchter (und insbesondere potentielle Interessenten für unser Hobby!) einen großen Bestand gar nicht halten könnten, selbst wenn sie es wollten. Dabei ist noch nicht einmal die Limitation durch die finanziellen Möglichkeiten an erster Stelle zu nennen. Gerade für Personen, die nicht auf dem Lande wohnen (und dies sind 85% der deutschen Bevölkerung!), sind die räumlichen Gegegebenheiten oft begrenzt und in gemischten Wohngebieten liegt die von den meisten Gemeinden zugestandene Bestandsgröße bei nur 50 Tieren! Auch ältere Sportfreunde haben irgendwann nicht mehr die Kraft und gesundheitliche Leistungsfähigkeit einen großen Bestand zu versorgen und müssen ihre Bestandsgröße in Folge dieser Umstände reduzieren.

Als ich am letzten Wochenende an einer Podiumsdiskussion zur Zukunft des deutschen Brieftaubensportes teilnahm, äußerte sich ein Mitglied der Sportkommission des Verbandes mit Bezug auf die aktuellen Vorschläge zur diesjährigen Mitgliederversammlung dahingehend, dass man gerne Satzzahlbegrenzungen in die Meisterschaftsausschreibungen aufgenommen hätte, um in Zukunft auch kleineren Beständen wieder mehr den Weg zu ebnen. Dies habe sich jedoch nach Prüfung des rechtlichen Rahmens nicht umsetzen lassen.

Ich persönlich war über diesen gesamten Gedankengang irritert. Wenn man den stetig wachsenden Bestandsgrößen entgegenwirken will, um den Taubensport für eine breite Masse an Interessenten attraktiv zu halten, wäre aus meiner Sicht zunächst der Blick auf die Ursachen dieses Wachstums angesagt. Beseitigt man die treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung, erreicht man sehr viel mehr und dies vor allem nachhaltiger. Ein Diktat der Bestandsgrößen durch den Verband und damit ein massiver Eingriff in die züchterische Freiheit wäre dabei gar nicht nötig.


Wer öfters liest, was ich so schreibe, weiß natürlich worauf ich hinaus will: Bei allen Meisterschaften, die die x besten Tauben ohne Bezug zur Mannschaftsgröße eines Züchters zur Bedingung haben, führt ein größerer Reisebestand zu spürbar besseren Chancen, so eine Meisterschaft erringen zu können! Und da die allermeisten Meisterschaften in den Rven, den Fluggemeinschaften und sogar in den Regionalverbänden immer noch nach diesem Muster gestrickt sind, haben sie einen massiven Einfluss auf die oben genannte Entwicklung gehabt, denn es sind genau diese Meisterschaften, die realistisch von jedem Züchter als Ziel anvisiert werden können, und nicht die Verbandsmeisterschaft.




Heute möchte ich diese immer wieder von mir vorgetragene These anhand konkreter Zahlen stützen. Denn immer noch sind in Gesprächen und Diskussionen zu dieser Fragestellung Argumente zu hören, wie "Man kann auch mit wenig Tauben Meister werden. Bei uns ist der Züchter XY mit ganz wenig Tauben immer mit vorne dabei.", "Es sind doch ohnehin immer die Gleichen vorne, da ändert doch der Meisterschaftsmodus nichts dran." Bei solchen Diskussionen wird jedoch immer wieder vergessen, dass man nicht mit Einzelfällen gegen eine allgemeine Tendenz argumentieren kann.

Man muss statt dessen einmal eine große Zahl von Züchtern im Umfeld einer "x besten Meisterschaft" betrachten, um den Effekt eines solchen Meisterschaftsmodus zu verdeutlichen. In meinem Regionalverband hatten wir in diesem Jahr sieben Regionalflüge aus deren Ergebnissen über einen "fünf-beste-Tauben"-Modus ein Regionalverbands-Meister ermittelt wurde. Legen wir die Zahlen des ersten Regionalfluges zugrunde, standen hierbei 630 reisende Schläge mit 18.179 Tauben zu Beginn miteinander im Wettbewerb. Diese Datenbasis ist mehr als nur ausreichend, um statistisch belastbare Aussagen zu treffen. Die abgeleiteten Aussagen gelten daher UNEINGESCHRÄNKT auch für kleinere Organisationen, selbst wenn dort eine derartige Auswertung wegen einer sehr viel kleineren statistischen Stichprobe einmal eine weniger eindeutige Aussage ergeben sollte.

Zur Auswertung habe ich die bestplatzierten 53 Züchter in dieser Regionalverbandsmeisterschaft betrachtet, und somit nur die besten 8,4% aller Züchter des gesamten Regionalverbandes. Dies alles sind also Züchter, bei denen wir annehmen können, dass sie mit Tauben umgehen können, dass sie allesamt nicht zu den schlechten Versorgern gehören, dass sie allesamt fitte Tauben zum Einsatz gebracht haben und dass sie allesamt auch ausreichend gute Tauben auf dem Schlag haben, um sich gut zu platzieren.

Nun haben diese besten Schläge des Regionalverbandes sich natürlich dennoch unterschiedlich in der Regionalverbandsmeisterschaft platziert. Und sicher wird ein Grund dafür darin bestehen, dass es auch unter den Guten immer noch Bessere gibt. Auch mag der eine Züchter mehr Glück mit seinen Zählern gehabt haben, als der andere Züchter. Und so finden wir unter diesen bestplatzierten Züchtern eine gewisse Streuung in der von ihnen auf den Regionalflügen erbrachten Reiseleistung. Interessant ist dabei jedoch die Feststellung, dass die erbrachte Reiseleistung keinerlei Abhängigkeit zur Größe der Reisemannschaft zeigt

Dies zeigt Abbildung 1 (zum Vergrößern anclicken). Hier wurden die erbrachten Reiseleistungen den Mannschaftsgrößen gegenübergestellt und jeder Schlag mit einem Punkt eintragen. Für Schläge mit einer großen Mannschaft liegt ihr Punkt weiter rechts im Diagramm. Bei Schlägen mit kleinerer Reiseleistung liegt der Punkt dann weiter unten. Hätte nun ein Zusammenhang zwischen der Reiseleistung und der Größe der Mannschaft bestanden, beispielsweise in der Form, dass größere Schläge auch besser reisen, so hätten die eingezeichneten Punkte in der Tendenz von links unten nach rechts oben ansteigen müssen. Sie tun es aber, wie leicht ersichtlich ist, nicht und bilden statt dessen einen Punktehaufen ohne ansteigende oder abfallende Tendenz.
(für Interessierte: die eingezeichnete Linie ist der Trend dem diese Punkte folgen, er wurde mit Hilfe der anerkannten statistischen Methode der linearen Regression berechnet, die erhaltene Geradengleichung ist ebenfalls abgebildet).

In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine große Reisemannschaft keine bessere Reiseleistung bringt! Eine Feststellung die auch nicht überrascht, aber dennoch wichtig ist, in diesem Zusammenhang festgestellt zu werden. Warum? Das, werden wir sehen, wenn wir Abbildung 2 näher betrachten:

Hier wurde der Platzierung eines Schlages in der Meisterschaft seine jeweilige Mannschaftsgröße gegenüber gestellt. Der Punkt für größere Schläge liegt hierbei weiter oben, und für Schläge mit einer besseren Platzierung weiter links (dort befindet sich Platz 1 in der Meisterschaft). Wenn nun die Mannschaftsgröße keine Auswirkungen auf die Platzierung in dieser "5-Besten"-Meisterschaft hätte, dürften die Punkte in diesem Diagramm keine Tendenz anzeigen, ihre Trendlinie müßte waagerecht verlaufen.

Es ist jedoch bereits mit bloßem Auge deutlich zu erkennen, dass sich die Punkte von "links oben" nach "rechts unten" bewegen. Diese Tendenz bedeutet ganz konkret: je größer hier eine Mannschaft ist, desto besser ist sie im Schnitt auch in der aktuellen "5-Besten" Regionalverbands-Meisterschaft platziert!
(Der Trendlinie zufolge bedeutet eine um ein Tier größere Mannschaft im Schnitt etwa eine um zwei Plätze bessere Platzierung in dieser Meisterschaft (2 x 0,49 = ca 1))

Da wir aber in Abbildung 1 gesehen haben, dass über die hier betrachteten Schläge nicht behauptet werden kann, dass die größeren Mannschaften auch die besseren Reiseleistungen erzielten und somit sportlich überlegen gewesen wären, bedeutet dies in der direkten Konsequenz: Die besseren Platzierungen der Schläge mit größeren Mannschaften gehen hier im Schnitt NICHT auf eine bessere sportliche Leistung zurück, sondern allein auf die größere Mannschaft!

Natürlich finden wir auch hier Einzelschläge, die sich trotz kleinerer Mannschaft sehr gut platzieren konnten, doch zeigt die eindeutige Tendenz in Abbildung 2, dass diese "Ausreißer" absolut nicht dazu geeignet sind, zu behaupten, große Bestände hätten keinen systematischen Vorteil bei den "x-besten"-Meisterschaftsmodi.
Im Gegenteil: Betrachten wir beispielsweise den Viertplatzierten im Regionalverband, so erbrachte er mit 59% die mit Abstand höchste Reiseleistung der hier betrachteten Schläge auf den Regionalflügen, hatte aber aufgrund seiner geringen Mannschaftsgröße von nur 22 Tauben dennoch keine Chance den verdienten ersten Platz zu belegen, denn die vor ihm Platzierten brachten 61, 96 und 65 Tiere an den Start. Es hat somit hier noch nicht einmal der Beste gewonnen, und eine Änderung des Meisterschaftsmodus beispielsweise in einen Modus, bei dem die Satzzahl in Anrechnung gebracht würde, hätte diese Liste der Sieger deutlich verändert!

Noch deutlicher wird der systematische Vorteil einer großen Satzzahl bei den "x-beste-Modi", wenn wir die mittlere Mannschaftsgröße der  Plätze 1 bis 10, 11 bis 20, 21 bis 30, und so fort in ein Diagramm eintragen (Abbildung 3), da hierdurch die Streuung des Einzelfalles nicht mehr so stark ins Gewicht fällt, aber die Tendenz durch diese Mittelung von jeweils zehn platzierten Schlägen nicht verfälscht wird:


Wenn wir uns nun noch die absoluten Zahlen der Mannschaftsgrößen dieser bestplatzierten 8,4% des Regionalverbandes anschauen und sie mit dem Mittel aller Züchter im Regionalverband vergleichen, sollte hoffentlich auch der letzte Verfechter dieser Modi eingestehen müssen, wie deutlich sich der systematische Vorteil einer größeren Mannschaft auf die Platzierung auswirkt.

Im Regionalverband traten 18.179 Tauben von 630 Schlägen gegeneinander an, somit betrug die mittlere Mannschaftsgröße über alle Schläge nur 28,9 Tauben. Die mittlere Mannschaftsgröße der hier betrachteten bestplatzierten Schläge betrug hingegen 54,2 Tauben, war also fast doppelt so groß!

Nur ganze 6 Züchter mit weniger als diesen 28,9 Tauben schafften es unter die besten 53, ein weiterer Züchter hatte genau 29 Tauben in der Mannschaft aber 46 Züchter der 53 Bestplatzierten lagen mit ihren Mannschaften (meist sogar deutlich) über der mittleren Größe der Mannschaften im Regionalverband.

Ich hoffe es wird nun niemand ernsthaft behaupten wollen, dass es in der Gruppe der Züchter mit Mannschaften von 20 bis 30 Tauben, die einen großen Anteil der 630 Züchter in diesem Regionalverband stellen, halt nur sieben Züchter existieren, die wirklich gut sind! Es gewinnt hier die Größe über die sportliche Leistung und dieser Zusammenhang ist eindeutig, er ist bedeutend und er ist NICHT wegzudiskutieren!

Und natürlich wissen die Züchter schon längst um all diese Zusammenhänge, denn genau dies stellte eben den wesentlichen Motor dar, der zum Wachstum der Bestände in den letzten dreißig Jahren geführt hat! Jeder motivierte Züchter wird in einem System, in dem solche Meisterschaften existieren, irgendwann mit der Frage konfrontiert, ob er realistische Chancen auf die vorderen Plätze haben will und deshalb seinen Bestand aufstocken muß, oder nicht!

Ein Züchter hat also in einem System wo "x-beste-Modi" den Ton angeben gar keine freie Wahl seiner Bestandsgröße! Und wenn er äußeren Restriktionen unterworfen ist, die eine Ausweitung seines Bestandes verhindern, könnte er noch nicht einmal eine Bestandsvergrößerung vornehmen, selbst wenn er es wollte! Er müßte also seine systematische Benachteiligung akzeptieren, seinen Traum einer Top-Platzierung begraben oder sich eben von diesem Hobby abwenden (bzw. erst gar nicht beginnen!).

# JEDE Organisation, egal ob RV, FG oder RegV, die "x-beste-Modi" für ihre wichtigen Auszeichnungen und Meisterschaften beibehält, setzt einen starken Anreiz zu größeren Beständen!

# JEDE dieser Organisationen handelt sportlich unfair gegenüber den Züchtern, die gerne einen kleineren Bestand halten möchten oder gar keinen größeren Bestand halten können, da diesen systematisch schlechtere Chancen eingeräumt werden, die sich nicht an der wahren sportlichen Leistung orientieren. Unter diesen Modi gewinnt eben NICHT immer der bessere, sondern manchmal auch einfach nur der Größere!

# JEDE Organisation könnte selbsttätig, ohne dass der Verband hier in der Verantwortung stünde, handeln und die Situation durch ABSCHAFFUNG aller dieser Modi verbessern. Jede Versammlung bietet dazu eine Gelegenheit. Und sollten manche Anträge an die MV in diesem Jahr durchgehen, so müßten vor Beginn der neuen Saison ohnehin auf RegV-Ebene Meisterschaften beschlossen werden (siehe RegV-Meisterschaft des Verbandes, Antrag IV (7)). Alternativen zu den "x-beste-Modi" gibt es genug, von satzzahlabhängigen Zählersystemen, über eine Begrenzung der Tauben die nur als Zähler in Frage kommen, bis hin zu Vorbenannten-Meisterschaften.


Natürlich rettet die Abschaffung der "x-beste-Modi" alleine nicht den deutschen Taubensport. Sie stellt jedoch einen wichtigen Mosaikstein zur Verbesserung der Situation dar, damit auch kleine Bestände nicht länger systematisch benachteiligt werden, und es sich somit wieder lohnt auch Taubensport im kleinen Rahmen zu betreiben mit der Perspektive auf Top-Platzierungen. Denn Taubensport ist auch Wettbewerb. Wem es nur um die Taubenhaltung geht, könnte ja sonst ebenso gut auch Rassetauben halten (es sei an dieser Stelle beiläufig erwähnt, dass die Zahl der Rassetaubenzüchter über viele der letzten dreißig Jahren angestiegen ist und nun auf hohem Niveau derzeit deutlich langsamer schrumpft als die der Brieftaubenzüchter).

In einem zweiten Teil zu diesem Thema werde ich in Kürze über die konkrete Auswirkung der Meisterschaften und ihrer Änderung auf RV Ebene schreiben.

Dienstag, 8. Dezember 2009

Der Riese unter den "Kleinen" (Teil 2)

Nachdem ich im ersten Teil versucht habe, den Einfluß, den Theo Gilbert mit seinen Tauben über mehr als vier Jahrzehnte auf den Taubensport hatte, darzustellen, möchte ich nun die eigentlich interessante Frage beleuchten:
Wie hat Theo Gilbert all dies schaffen können? Wie ist er als Züchter vorgegangen?

Fast 25 Jahre nach dem Tod von Theo Gilbert ist dies freilich ein fast aussichtsloses Unterfangen, zumal Theo Gilbert ein sehr öffentlichkeitsscheuer Züchter gewesen sein muß. Im Prospekt zu seinem Totalverkauf im Jahre 1985 sagt der Schwiegersohn Theo Gilberts, Georges Himpe, dass es gerade einmal drei überlieferte Interviews über Theo Gilbert gäbe, das erste von 1961, das letzte von 1983.

Man muß dies erst einmal wirken lassen: Ein Züchter von dieser herausragenden Klasse, und es gibt gerade einmal drei Interviews in über 40 Jahren erfolgreichen Taubensports! Damals schon extrem aussergewöhnlich, doch heute wohl nahezu undenkbar! Die drei Interviews sind mir leider nicht zugänglich gewesen, doch laut Prospekt der Totalversteigerung stimmten sie alle darin überein, dass die kleine Kolonie von Theo Gilbert von unvergleichlicher Klasse wäre, und dass es unzählige nationale Cracks und Super-Tauben gäbe, die auf Theo Gilbert zurückgingen. Das bestätigt uns zwar in unserem Urteil über die züchterische Leistung Gilberts, aber hilft uns bei der Analyse seiner Zuchtstrategie leider recht wenig.

Dank Georget Pappens liegt mir jedoch der komplette Prospekt der Totalversteigerung vor, die am 25.11.1985 anlässlich des Todes von Theo Gilbert in Beervelde stattfand. Besonders wertvoll sind seine Informationen deshalb, da in diesem Prospekt alle 45 Tiere
von Theo Gilbert zum Verkauf standen (inklusive aller Jungtauben war sein Bestand tatsächlich nicht größer!) und inklusive einer Beschreibung der Tauben und ihrer Abstammung aufgelistet waren. So erhalten wir eine Momentaufnahme des Gesamtbestandes von Theo Gilbert aus dem Jahre 1985, die ein paar fundierte Einblicke in das Vorgehen Gilberts in der Zucht zuläßt. Auch wenn nicht anzunehmen ist, dass ein Züchter, der über einen solch langen Zeitraum mit ähnlicher Bestandsgröße bis zu seinem Tod große Erfolge gefeiert hat, seine Methodik häufig oder gar sprunghaft geändert hat, kann Manches von dem, was nun folgt nur eine plausibele Vermutung sein.

Die Struktur des Bestandes
26 Tauben des Gesamtbestandes von 45 Tieren waren Jungtiere von 1985, somit also knapp 60% des Bestandes. Dies legt übrigens einen Winterbestand von nur knapp 20 Tieren nahe!! Desweiteren besaß er 10 jährige Tauben des Jahrgangs '84. Insgesamt waren also nur 9 Tiere bzw. 20% des Bestandes von Theo Gilbert zweijährig und älter. Diese 9 Tiere besaßen ein Durchschnittsalter von etwa knapp über vier Jahren, wobei ein 9-jähriger Vogel das älteste Tier darstellte. Zusammen mit den 10 jährigen Tauben hatten seine Alttiere also ein Durchschnittsalter von knapp drei Jahren.

Zu den Abbildungen:
Das Bild in Teil 1 zeigt Theo Gilbert im Alter von 89 Jahren.

Das Bild in Teil 2 oben zeigt das Elternpaar des "Rapido", des "Kupido" und des "Panter", im Folgenden "Paar 2" genannt

Das Bild zur Linken zeigt die Abstammung des "Panter" (durch einen Click erscheint es in voller Größe)

Das Bild unten zeigt einen Nachkommen von "Paar 2" auf meinem Schlag volle sieben Generationen später!


Die Zuchtpaare
Es scheint, dass Theo Gilbert zumindest in den letzten Jahren das Spiel mit Jungtauben und jährigen Tauben bevorzugt hat. Alle gereisten Tiere gingen auf nur sechs Paarungen zurück, die ich im Folgenden erläutern möchte:

Paar 1
Es wurde gebildet aus dem "Oude zwarte witpen" mit der Ringnummer 3044618/76 und der "Geschelpte Vanhoutteduivin" mit der Ringnummer 3391477/79. Der Vogel war damit die älteste Taube auf dem Schlage Gilberts und entstammte seiner "alten Sorte", was immer dies heissen mag. Das Weibchen hingegen war eine eingeführte Taube. Sie stammte aus zwei sehr erfolgreichen Tieren des Züchters Georges Vanhoutte aus Waregem, welches etwa drei Kilometer von Zulte entfernt liegt und war nicht mit den Tieren von Gilbert verwandt.
Das "Paar 1" war quasi das Basispaar des 1985 vorgefundenen Bestandes, denn insgesamt befanden sich 8 Kinder dieses Paares im Bestand (mehr als 1/6tel des Bestandes), wovon drei Kinder zur Zucht eingesetzt wurden, so dass sich 1985 zudem ingesamt 23 Enkel dieses Paares im Bestand befanden. Dieses Paar soll außerdem viele sehr gute Reisetauben gebracht haben

Paar 2
Der Vogel "Gouden zwarten sproetduiver" mit der Nummer 3354254/80 und die Täubin "Zwart bonte duivin" mit der Nummer 3354256/80 bildeten dieses Paar, welches Anfang der 80er belgienweit für Aufsehen sorgte. Sie sind die Eltern des "Rapido", des "Kupido", des "Panter", die sich zum Zeitpunkt der Versteigerung bereits seit ein paar Jahren auf dem Schlag von Verstraete befanden. Wie hoch aber auch Theo Gilbert selbst dieses Paar einschätzte, sieht man daran, dass insgesamt 15 Kinder dieses Paares (also 1/3tel des Bestandes) auf seinem Schlage saßen. Davon nutzte er zwei Kinder und zudem noch einen Enkel des Paares zur Zucht, dreizehn Kinder dieses Paares nutzte er also für die Preisflüge!
Der Vogel dieses Paares war ein direkter Sohn des "Paares 1". Die Mutter entstammte wiederum seiner "alten Sorte" und war wohl eine Tochter eines "Kampjoentje v. 72", was darauf hindeutet, dass zumindest ihr Vater selber ein sehr guter Flieger war.

Paar 3
Hierbei handelt es sich um eine Verpaarung von "Fremd" x "Paar 1"
Es befanden sich vier Jungtauben als einzige Nachfahren dieses Paares im Bestand.

Paar 4
Dies war eine Verpaarung "Paar 2" x "(Alte Sorte x Fremd)"
Es befanden sich als einzige Nachfahren drei Jungtauben im Bestand

Paar 5
Hier war "Fremd" x "Paar 2" verpaart. Es befanden sich ebenfalls nur drei Jungtauben als einzige Nachfahren im Bestand

Paar 6
Hier paarte er Nichte an Onkel nämlich "Paar 1" x "Paar 2". Dies war übrigens die engste Paarung die er durchführte. Aus diesem Paar befanden sich fünf Jungtiere als einzige Nachfahren im Bestand.

Die Interpretation
Dies war also der gesamte Bestand von Theo Gilbert im Jahre 1985. Folgende Dinge sind bei genauer Betrachtung seines Bestandes und der beschreibenden Texte im Verkaufsprogramm bemerkenswert:

- Sein Winterbestand betrug wohl nur knapp 20 Tiere!

- er züchtete somit jährlich gemessen an seinem Kleinstbestand ausgiebig und behielt nur grob 1/3tel dieser Jungtiere nach der Saison. Bei einem besonders schönen Tier aus seinem besten Paar machte er jedoch auch schon einmal eine Ausnahme und testete es sogar direkt in der Zucht, ohne es zuvor auf der Reise zu testen

- Theo Gilbert konzentrierte sich pro Generationsintervall (damit meine ich alle drei Jahre, da das Durchschnittalter seiner Alttiere ja ca. drei Jahre betrug) jeweils nur auf genau ein einziges Zuchtpaar! Dessen Nachtzucht mußte nicht nur gut oder sehr gut sein, sondern überragend! So wie dies bei "Paar 1" Ende der 70er der Fall war und später ab 1982 bei "Paar 2", welches wohl seither sein Stammzuchtpaar wurde.

- Aus diesem Stammzuchtpaar züchtete er jeweils sehr ausgiebig. Diese Nachzucht hatte offensichtlich Priorität vor allen anderen Zuchtpaaren. Es bereitete ihm keine Sorge, dass sogar ein Drittel seines Bestandes direkte Nachzucht dieses Paares war. Denn es war eben sein absolut bestes Zuchtpaar!

- diese besten Zuchtpaare wurden nicht getrennt und blieben zusammen bis ins hohe Alter. Auch aus einem sechsjährigen Weibchen und einem neunjährigen Vogel zog er noch ausgiebig.

- Kinder seines Stammpaares paarte er dann an eingeführte nicht verwandte Tiere oder an Tiere, die einer Paarung "eigene Sorte" x "Fremd" entstammten. Wobei "eigene Sorte" hier einen direkten Verwandten der Eltern des Stammpaares meint, so dass dieses Tier nicht komplett auf zugeführte Tauben zurückgeht.

- Er führte nahezu jährlich eine fremde Taube von außen ein, die nicht mit seiner Sorte verwandt war, jedoch erstklassige Qualität besaß. Dies meint ein sehr gutes Reisetier oder ein direktes Kind solcher erstklassigen Reisetiere.

- Diese verschiedenen eingeführten Tauben waren jedoch nicht zueinander verwandt.

- die eingeführten Tauben wurden in der Zucht zwei, maximal drei Jahre lang getestet und zogen dabei jährlich drei bis vier Jungtiere.

-Das beste so gezogene Kreuzungstier durfte im Bestand verbleiben und wurde nun in die eigene Sorte (also z.B. Kinder oder Enkel des Stammpaares) zurückgepaart. Ein eingeführtes Tier durfte nur dann verbleiben, wenn die Nachzucht sehr sehr gut war.

- Insgesamt befanden sich nur jeweils drei eingeführte Tiere und drei Kreuzungstiere der F1-Generation im Bestand. Der Rest des Bestandes ging direkt auf das Stammpaar oder frühere Generationen der eigenen Sorte zurück.

- Durch dieses Vorgehen war eine Onkel x Nichte Paarung die engste mögliche Verpaarung. Ein Inzuchtkoeffizient von 12,5% wird unter diesen Umständen niemals überschritten, und auch dieser Maximalwert tritt dann nur bei Einzelpaarungen auf und repräsentiert nicht den Inzuchtdurchschnitt des Bestandes. Durch die jährliche Einführung von einer fremden Taube konnte Gilbert so auch über -zig Jahrzehnte eine steigende Inzucht in seinem Kleinstbestand verhindern. Ein Abfall der Reiseleistung durch Inzuchtdepression stellte damit für seinen Bestand keine Gefahr dar.

- Gleichzeitig beschränkte Gilbert die Gesamtzahl der eingeführten Tiere und der Tiere die in erster Generation aus diesen eingeführten Tieren hervorgingen auf sehr wenige Tiere. Aus denen er dann in Rückpaarung mit seiner Sorte ein neues Stammpaar suchte.

Eventuell hierdurch konnte er den Grundcharakter seiner Tiere über einen so langen Zeitraum erhalten. Denn es ist sehr auffällig, wie ähnlich seine Tauben in den 40er Jahren von Piet de Weerd beschrieben wurden (groß, dunkel mit weißen Federchen, braune Augen, beste Eignung für die Mittelstrecke), und wie sehr dies in den 80er Jahren noch auf die Leistungsträger des Schlages Gilbert zutraf. Deutlich wird dies, wenn wir uns die Abbildung des "Paares 2" und die Abbildung des "Panter" anschauen. Es sind auch hier dunkele, praktisch schwarze Tauben, die neben ein paar weißen Federchen am Kopf noch einzelne Scheckfedern besaßen. Auch die Gilberttäubin von Michel Nachtergaele soll eine schwarze Täubin gewesen sein und ihr bester Sohn (ebenfalls schwarz) bekam den Namen "Witterugge" (Weißrücken) was auch hier das Vorhandensein weißer Federn signalisiert.

Auffällig: Die Äußere Erscheinung der Tauben von Theo Gilbert
In meinen Blog-Beiträgen zur Populationsgenetik habe ich darauf hingewiesen, dass Tauben vierzig Chromosomenpaare besitzen, und dass die leistungstragenden Eigenschaften durch die additive Wirkung einer Vielzahl von Genen bestimmt werden, die sich auf viele verschiedene Chromosomen verteilen können. Aus diesem Grunde ist es gefährlich von einem äußerlichen Merkmal einer Taube, wie z.b. ihrer Gefiederzeichnung oder Gefiederfarbe auf Leistungseigenschaften der Taube schließen zu wollen, da eine solche Äußerlichkeit meist nur von einem Gen bestimmt wird und damit auf nur einem der vierzig Chromosomen lokalisiert ist. Und ob gerdae auf diesem Chromosom ebenfalls auch ein für Taubenleistung wichtiges Gen lokalisiert ist, ist dann mehr als unsicher.

So hat sich z.B. gezeigt, dass die Gefiederfarbe "dominant rot" über ein Gen erzeugt wird, welches auf dem männlichen Geschlechtschromosom der Taube sitzt, von dem ein Vogel zwei und eine Weibchen eines besitzt. Da aber zwischen Vögeln und Weibchen keine signifikanten Unterschiede in den Reiseleistungen zu finden sind, und wenn überhaupt, dann eher zu Lasten der Vögel, und da zudem die Zuchtleistungen von sehr guten Reise-Weibchen nicht hinter denen von Vögeln zurückstehen, scheint das männliche Geschlechtschromosom also als Träger von wesentlichen leistungstragenden additiven Genen bei Tauben auszufallen (siehe auch hier).

Da ein Chromosom für gewöhnlich als Ganzes vererbt wird, und Gene des Geschlechtschromosoms immer nur auf dem Geschlechtschromosom sitzen und auf keinem anderen Chromosom (
Mutationen einmal nicht betrachtet), kann also mit der dominant roten Färbung von Tauben keine relevante Leistungseigenschaft gekoppelt vererbt werden.
Sprich: Bei Nachfahren von dominant roten Tauben ist es unerheblich, ob die Kinder ebenfalls rot sind. Sie könnten dennoch über alle guten Eigenschaften des Elterntieres verfügen, auch wenn sie einfach nur gehämmert oder blau ausfallen.

Bei den Tauben von Theo Gilbert ist jedoch eines besonders auffällig: Die immer vorhandene schwarze Färbung, ggf. sogar in Kombination mit weißen Federchen. Diese Kombination tritt seit den 40er Jahren bei seinen Tieren immer wieder auf. Und dies sogar bei Tauben, die nur der entfernten Nachzucht seiner Tauben entspringen, wie die Abbildung einer Taube auf meinem Schlag (letzte Abbildung) hier deutlich zeigt.

Dies könnte natürlich daran liegen, dass Theo Gilbert immer darauf geachtet hat, dass seine Hauptzuchttiere diesem Färbungstyp entsprachen. Doch war Theo Gilbert ein extrem leistungsorientierter Züchter, was auch die Erfolge seiner Tauben beweisen. Er hätte sicher keine Tauben auf seinem Schlage belassen, wenn sie keine Leistung gebracht hätten, nur weil sie schwarz waren. Und wie der Verkaufsprospekt zeigt, scheute er auch keineswegs davor zurück blaue und gehämmerte Tiere einzuführen, wenn nur die Leistung stimmte.

Ebenso war es bei Michel Nachtergaele. Seine Gilberttäubin war dunkel. Die wichtigsten Kinder dieser Täubin waren dunkel und die Leistungsträger, die bei seiner Jungtaubenversteigerung von 1956 aufgeführt wurden, gingen ebenfalls auf die Gilberttäubin zurück und waren meist dunkel.
Georget Pappens schickte mir all diese Unterlagen, da sein Vater selber Ende der 50er Jahre einen Enkel des "Coppi" von Nachtergaele einführte, der schwarz war. Zu dieser Zeit saßen im Bestand seines Vaters in überwiegender Zahl blaue und gehämmerte Tauben. Die wenigen Dunkelen gingen auf den Nachtergaele-Vogel zurück, wie ein Verkaufsprospekt von 1962 zeigt.
Siebzehn Jahre später, 1979 versteigerten G. und H. Pappens wiederum Tauben. Sie hatten sehr gute Erfolge vorzuweisen, ihre Tauben waren also in der Zwischenzeit eindeutig nach Leistung selektiert worden. Doch nun plötzlich befanden sich -zig schwarze und dunkele Tauben im Bestand mit sehr guten Flugleistungen und sie gingen alle auf den eingeführten dunkelen Vogel von Nachtergaele zurück!

Die schwarze bzw. dunkele Zeichnung vererbt sich gegenüber gehämmert und zweibindig-blau dominant. Dies bedeutet, dass der Nachwuchs einer spalterbig dunkelen Taube zu 50% ebenfalls dunkel sein wird. Und ebenso, dass sich aus Paarungen mit nicht dunkelen Tieren die dunkele Zeichnung nicht mehr hervorspalten kann. Was weg ist, ist weg. Somit sollte diese dunkele Zeichung in einem Bestand bei stetiger Zufuhr von blauen und/oder gehämmerten Tieren langsam in Unterzahl geraten und irgendwann sogar nahezu verschwinden.

Sie tat es aber nicht! Weder im Bestand von Michel Nachtergaele, noch im Bestand von Theo Gilbert. Und die dunkele Zeichnung verbreitete sich sogar zunehmend im Bestand von G. und H. Pappens. All diese Züchter waren jedoch stark leistungsorientierte Züchter und führten ständig "nicht dunkele" Tiere in ihren Bestand ein. Somit liegt in diesem speziellen Fall tatsächlich eine Kopplung von wertvollen Leistungseigenschaften der "Gilbert-Tauben" mit der dunkelen Färbung vor.

Sprich auf dem Chromosom, auf dem das Gen dieser Färbung sitzt, sind ebenso wichtige Gene (oder ev. auch nur eines) zu finden, die einen wesentlichen Teil der Leistungsfähigkeit dieser Tiere bestimmen. Anders ist es nicht zu erklären, wie sich diese dunkele Zeichnung über nunmehr zwanzig Generation vom "Oude Zwarte" Theo Gilberts aus den 40ern des letzten Jahrhunderts bis heute gehalten hat. Und dies bis hin zu Jos Vercammen, einem Züchter der auf die Leistung der Tiere schaut und eben nicht auf die Färbung und der seit der Einführung seines "Panter v. 86" fast ausschließlich anders gefärbte Tiere eingeführt hat. Dennoch, seine allerbesten Zuchttiere aus der Linie des "Panter" sind auch heute noch dunkel bis schwarz und weisen teilweise weiße Federn auf.

So eine hier auftretende Kopplung einer leicht zu erkennenden äußerlichen Eigenschaft mit leistungsbestimmenden Eigenschaften ist ein absoluter Glücksfall für den Züchter. Denn neben den Kriterien der Selektion über Flugleistung, Vitalität und Verhalten hat er hierdurch ein zusätzliches Kriterium, das er zur gesicherten Fortführung seiner Leistungslinie nutzen kann.
Und ich bin mir sicher, Theo Gilbert hat diesen Zusammenhang über all die Jahre zu seinem Vorteil zu nutzen gewußt.


An dieser Stelle muß aber noch einmal davor gewarnt werden, diese Besonderheit der Gilbert-Tauben zu verallgemeinern. Erstens meint dies nicht, dass alle ebenso dunkel gezeichneten Tauben gute Anlagen haben, denn wenn sie einer anderen Familie entstammen, könnte das entsprechende Chromosom komplett anders besetzt sein, und so z.B. auch eine negative Eigenschaft auf dem selben Chromosom der dunkelen Färbung liegen. Andererseits gibt es natürlich ganz sicher auch dasselbe Chromosom ohne jenes Gen für die dunkele Färbung, aber dennoch mit den anderen für die Leistung so positiven Genen. Auch blaue oder gehämmerte Tiere erringen schließlich aussergewöhnliche Leistungen. Und der "Klaren" von Desmet-Mathys war beispielsweise auch "nur" ein gehämmerter Vogel, hat also dieses Chromosom wohl nicht von seiner dunkelen Mutter erhalten, dafür aber ein zumindest gleichwertig gutes von seinem Vater, sonst wäre er nicht so ein prägender Vererber geworden.

Auf alle Ewigkeit sicher kann sich ein Züchter jedoch auch bei Entdeckung einer solchen Kopplung nicht sein, denn durch ein sogenanntes "crossing over" kann dieses schöne Paket an Eigenschaften, welches dort auf einem Chromosom konzentriert sitzt, wieder aufgeschnürt werden (siehe dazu hier). Auf eine stetige Zuchtprüfung durch den Korb, kann also auch dann nicht verzichtet werden.


Wie dem auch sei, hatte ich schon geschrieben, dass dunkelgehämmert bis schwarz zu einer meiner Lieblingsfärbungen bei Tauben gehört?

Freitag, 4. Dezember 2009

Der Riese unter den "Kleinen" (Teil 1)

Von Züchtern, die einen sehr guten Vererber besitzen, dessen Nachzucht atemberaubende Ergebnisse einfliegt, hörten wir alle schon einmal. Seltener ist es dann schon der Fall, dass die Nachzucht dieses Vererbers gleich auf mehreren verschiedenen Schlägen Außergewöhnliches zu Wege gebracht hat.
Doch wie oft haben wir schon von Tauben gehört, die ganze Schläge über Jahrzehnte geprägt haben? Das ist schon sehr selten. Wie oft hat aber unter diesen Fällen ein und die selbe Sorte Tauben eine ganze Hand voll von nationalen Spitzenzüchtern und sogar eine "Rasse" mit Weltruf hervorgebracht? Nun, spätestens jetzt müssen wir schon sehr genau nachdenken, um solche Fälle zu finden. Wenn wir dann noch fordern, dass die Tauben dieses Züchters, dieses Kunststück über einen Zeitraum von über 40 Jahren immer wieder fertig brachten, und dies sogar noch viele Jahre über die aktive Laufbahn des Züchters hinaus, dann fällt uns wohl nur noch der Schlag der Gebrüder Janssen ein. Doch spätestens mit folgender letzten Forderung sind auch die ehrwürdigen Gebrüder aus Arendonk aus dem Rennen: Der Züchter soll ein "Kleiner" sein, mit einem Bestand inkl. Jungtieren von weniger als 50 Tieren!

So etwas gibt es nicht? Doch! Es gab diesen bemerkenswerten Züchter, sein Name war Theo Gilbert aus Zulte.

Vor etwas mehr als einem Jahr gelangte ich in den Besitz von drei Tauben eines belgischen Spitzenschlages, der seit Jahrzehnten dort auf höchstem sogar nationalem Top-Niveau spielt. Da die drei Tauben aus den absoluten Top-Zuchttieren dieses Schlages stammten, habe ich sie eingeführt, obwohl mir ihr Äußeres eigentlich gar nicht so sehr zusagte, sie waren nämlich sehr dunkel gehämmert bis Schwarz, bzw. Schwarzschecken. Und diese Färbung hat mich nie besonders gereizt. Zudem waren sie recht groß und besaßen kastanienfarbene bis gelbbraune Augen. Auch dies gehört, wenn ich ein Wunschkonzert hätte, nicht gerade zu meinen Favoriten unter den Äußerlichkeiten. Doch die Leistung der direkten Verwandschaft und des Ursprungsschlages lassen mich über solche Nebensächlichkeiten gerne "hinwegsehen".

Beim Studieren der Abstammung der Neuerwerbungen, fiel mir sehr schnell auf, dass sie alle teils mehrfach auf eine Ursprungstaube zurückgingen, die man absolut zurecht als Stammtaube dieses belgischen Schlages bezeichen kann. Und diese Taube war der bekannte "Panter" von Jos Vercammen. Und er wurde ausgewiesen als ein Enkel des "Oude Panter v. 81" von, nun dies ist jetzt unschwer zu erraten: Theo Gilbert.
Eigentlich interessiert es mich gar nicht, was vor fünf, sechs Generationen im Stammbaum einer Taube steht, die aktuelle Verwandschaft ist mit ihrer Leistungsdichte entscheidend! Aber den Namen Theo Gilbert hatte ich doch schon früher einmal gelesen. War nicht die Mutter des "Klaren", der weltberühmten Stammtaube von Valère Desmet aus Nokere auch von einem Züchter gleichen Namens? Valère Desmet gründete auf Basis dieses "Klaren" ab Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts seine "Taubenrasse" namens Desmet-Mathys, die mehrere Jahrzehnte weltweit für Furore sorgte.

Konnte das wirklich sein? Ein und derselbe Züchter hat in einem Abstand von über 40 Jahren zwei Weltklasse Kolonien quasi mitbegründet, und dennoch spricht man heute kaum über ihn und findet auch kaum ergiebige Informationen über ihn? Dieser Frage wollte ich nachgehen und natürlich auch, wie es diesem Theo Gilbert gelungen ist, über eine solch lange Zeit derartig durchschlagende Tauben zu züchten. Nach einiger Recherche und dank der Hilfe des belgischen Sportfreundes Georget Pappens (noch einmal vielen Dank an dieser Stelle, Georget) ergab sich für mich ein klareres Bild dieses aussergewöhnlichen Züchters. Theo Gilbert und das, was ich über seine Zuchtmethode herausfinden konnte, sind es mehr als wert, an dieser Stelle vorgestellt zu werden.

Beginnen wir in den 40er Jahren. Theo Gilbert besaß zu dieser Zeit mehreren Quellen zufolge (
z.B. Piet de Weerd Rauschende Flügel, S.76) einen erstklassigen Vererber: Den "Oude Zwarten". Über den Ursprung der Tauben von Theo Gilbert läßt sich jedoch wenig herausfinden.
Hier ist die Quellenlage sehr schlecht. Falls jedoch de Weerd und Edward Baeten ("De witte veer") recht haben, dann könnten seine Tauben letztendlich auf Tauben von Theo Vandevelde zurückgehen, die über die Gebr.Delombaerde und Vic Biebuyck ihren Weg bis zu Theo Gilbert fanden. Die Tauben von Theo Vandevelde haben auch einen wichtigen Anteil am Aufbau der Kolonien von Charles Vanderespt und der Gebr. Cattrysse geleistet.

Zurück zum "Oude Zwarten": Eine schwarze Tochter dieses Vogels ging zu Michel Nachtergaele ebenfalls wohnhaft in Zulte. Aus ihr zog er in kurzer Folge den "Frullen", den "Coppi", den "Witterugge" und noch einige weitere absolute Toptauben. Diese Tauben erflogen über eine Million Belgische Franc an Preisgeldern und dabei auch -zig erste Preise. Der "Coppi" und auch der "Witterugge" galten zusammen mit dem "Klaren" von Desmet-Matthijs als die besten Mittelstrecke-Tauben, die bis dahin in Belgien geflogen hatten. Michel Nachtergaele war durch die Nachzucht dieser Täubin und des "Coppi" und "Witterugge" über Jahre hinweg bis weit in die 50er Jahre hinein ein absoluter Spitzenschlag in Belgien. Da auch er nur einen überschaubaren Bestand besaß, gingen in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren fast alle seine Tauben auf diese Stammtäubin von Theo Gilbert zurück. Dies beweist ein mir vorliegender Katalog einer Jungtaubenversteigerung, die Nachtergaele 1956 in Kortrijk abhielt.

Doch Nachtergaele profitierte nicht als einziger von diesen Tauben. Ein Belgier Namens Georges Busschaert besaß Töchter und Söhne des "Coppi" und des "Witterugge" und mit dem "Fijnen" einen direkten Sohn der Gilbert-Täubin Nachtergaeles. Mit diesen Tauben siedelte Busschaert aus beruflichen Gründen nach Kent in Großbritannien über und begründete dort den erfolgreichsten und bekanntesten Schlag, den es in Großbritannien je gegeben hat. Alan Wheeldon schreibt sogar, es gäbe keinen einzigen Züchter in Großbritannien, der nicht wenigstens einmal Buschaert-Tauben auf dem Schlag gehabt hätte.

Der "Oude Zwarten" von Theo Gilbert brachte mit einem anderen Weibchen eine weitere Tochter, die berühmt werden sollte: Die "Frulle", eine "enorm große, breite, flachgebaute imponierende Ente, aber ohne Gewicht." Sie war dunkel, hatte einige weiße Federchen in den Augenwinkeln und besaß bräunliche-dunkele Augen. So wurde sie von Piet de Weerd beschrieben (
Prof. Alfon Anker "Die Kunst des Züchtens", S.258). Sie besaß die Ringnummer B-38-3363097 und wurde gepaart an den "Oude Rosten". Aus dieser Paarung fiel dann der besagte "Klaren" mit der Ringnummer B-46-3060539. Er erfolg in sechs Jahren nicht nur 64 Preise bei 66 Einsätzen, sondern lag dabei 52 mal im ersten Zehntel der Tauben, 19mal im ersten Prozent und errang 489.499 Belgische Franc an Preisgeld.

Doch als Zuchtvogel war der "Klaren" noch besser. Und so konnte Valère Desmet basierend auf ihn einen Taubenstamm gründen, der unter dem Namen "Desmet-Mathys" weltbekannt werden sollte. Doch die Mutter des Klaren, war bei weitem nicht die einzige Taube von Theo Gilbert, die Desmet zur Bildung seines Stammes einsetzte. Laut Jules Gallez (
"Die Geschichte der Belgischen Reisetaube Teil I", S.309 ff) kamen darüber hinaus die "Roste duivin", die "Gilbert duivin" mit der Nr. B-45-234258, der Vater des Witoog direkt von Gilbert, und ein eingeführter Vogel von Gentil Rijsman war ebenfalls ein "halber Gilbert". Ob über diese fünf Gilbert Tauben hinaus weitere Gilbert Tauben am Aufbau des Stammes von Desmet-Mathys beteiligt waren, geben meine Quellen nicht her, wohl aber, dass Valére Desmet diese Tauben teils mehrfach im Stammaufbau durch gezielte Inzucht verankert hat. Wären es die 70er Jahre gewesen und Theo Gilbert wäre so populär gewesen, wie seinerzeit die Gebrüder Janssen, würde ich fast annehmen, dass der Stamm von Valére Desmet wohl eher nicht den Namen "Desmet-Mathys" bekommen hätte, sondern voller Stolz als Filialschlag von Theo Gilbert bezeichnet worden wäre. Doch Theo Gilbert war ein kleiner und offensichtlich sehr bescheidener Züchter, der keinen Wert auf Publicity legte.

Nun, nicht nur die direkten Kinder des Oude Zwarten von Theo Gilbert beeinflußten den Taubensport nachhaltig. Seine Tauben waren auch in den folgenden Jahrzehnten am Aufbau von nationalen Spitzenschlägen in Belgien beteiligt. Mitte der 50er Jahre bis hinein in die 70er wurden die Gebrüder Debaere aus Nokere durch ihre Erfolge weltberühmt. Auch ihre Tauben gingen auf die Stammlinie des Klaren von Desmet-Mathys und zahlreiche eingeführte Tauben von Theo Gilbert zurück (
Victor Vansalen "So züchten Meister", S. 125).

In Waregem reiste Jozef Verheye Jahre lang auf höchstem Niveau. Auch sein Schlag ging auf die Tauben von Theo Gilbert zurück. Er selbst bezeichnete sich im Totalverkaufsprospekt Theo Gilberts als eine Art Filialschlag von Theo Gilbert, dem er seine Erfolge zu verdanken habe.

Und schließlich in den 80ern machten wiederum drei direkte Theo Gilbert Tauben auf sich aufmerksam:
Der "Rapido" wurde 1. provinzale As-Taube Fond in Ost-Flandern mit dem Rekord-Koeffizienten von 0,59% und drei 1. Preisen ab Tours, sein Vollbruder der "Panter" (es ist dies der oben genannte "Oude Panter v. 81") gewinnt zweimal einen 1. Preis ab Orleans auf Provinzial-Ebene und ein weiterer Vollbruder der "Kupido" macht sich als sehr guter Zuchtvogel bei Raoul und Xavier Verstraete einen Namen. Auch der "Rapido" und der "Panter" wurden von Verstraete gekauft und sie sollten zu Stammtauben ihres Schlages in dieser Zeit werden. Aber nicht nur bei Verstraete sorgten diese Tauben in den 80ern und frühen 90ern durch die Erringung mancher nationaler Ehren für Aufsehen. In den Niederlanden wurde beispielsweise mit dem NL-89-2729024 genannt "Eurostar" (
offensichtlich ein beliebter Name) ein Verstraete-Vogel mit Rekordpunktzahl erste nationale As-Taube der Mittelstrecke. Und dieser Vogel war ein Enkel des "Rapido".

Alfons Slaets besaß einen Nachfahren des "Oude Panter v. 81". Und dieser Vogel gewann im direkten Vergleich gegen Tauben von Jos Vercammen. Dies schaffte sonst kaum einer, somit war für Jos Vercammen klar, welche Taube er kaufen mußte, um sich zu verstärken: eben genau diesen "Panter von 86" von Alfons Slaets. Darüber hinaus kaufte er noch weitere Nachkommen des "Oude Panter" und des "Rapido" direkt bei Verstraete und baute darauf seine bis heute an der nationalen Spitze in Belgien reisende Kolonie auf. Jüngstes Beispiel für diese Leistungsstärke ist die Erringung des 1. und 2. Preises national 2009 auf dem prestigeträchtigsten Flug von ganz Belgien: Dem Nationalflug Bourges. Ihre Tauben waren die zwei schnellsten gegen 64.621 Tauben. Im Stammbaum des Vaters des Nationalsiegers taucht der "Panter" viermal auf und im Stammbaum des 2.national taucht der "Panter" sogar fünf mal auf.

Michel Nachtergaele, Georges Busschaert, Desmet-Mathys, Gebr. Debaere, Jef Verheye, Alfons Slaets, R. und X. Verstraete, Jos Vercammen und seine eigenen Erfolge, was meinst du, lieber Leser: Habe ich im einleitenden Absatz übertrieben, was die Leistungen und den Einfuß der Tauben von Theo Gilbert betrifft? Ich glaube nicht.

Im zweiten Teil werde ich versuchen der Zuchstrategie von Theo Gilbert auf die Spur zu kommen.

Samstag, 13. Dezember 2008

Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 12)

Da habe ich noch in meinem letzten Blog die Beitragsqualität der Zeitschrift "Die Brieftaube" gescholten, und dann lese ich heute in der 49/08 wiederum einen Beitrag zum Thema Zucht und noch dazu einen, wie ich finde sehr guten. Die Überschrift des Artikel lautet "Männergespräche" und gibt im wesentlichen ein Gespräch der Autorin mit den zwei Züchter-Ikonen Harry Tamsen und Günter Prange wieder.

Ich finde den Artikel sehr gut, weil er die Erfahrungen zweier sehr erfahrener Züchter zum Thema Zucht wiedergibt, und dabei einige sehr hilfreiche Schlüsse gezogen werden. Und dazu gibt der Artikel ein hervorragendes Beispiel dafür ab, wie wir Informationen, die wir von Spitzenzüchtern, Taubenexperten, Zuchtexperten, Blog-Schreibern :-) oder wem auch immer erhalten, bewerten sollten: Neugierig, offen, doch immer auch kritisch! (wie gesagt, das gilt im selben Umfange auch für meine Blogbeiträge, lieber Leser!)

Harry Tamsen hat in dem Artikel Manches, sehr wahres gesagt, wie ich finde:
1. Wenn man Durchschnittstauben mit sehr guten Tauben verpaart, kommt dennoch nie etwas sehr gutes dabei heraus!
2. Schwarmfliegen welches Tauben durch Auflass in kleineren lokalen Gruppen lernen, mag Verluste minimieren, ist aber auf Dauer der Anforderung, dass sich unsere Tauben vom Schwarm trennen müssen, nicht förderlich. In der Konsequenz sind also Auflässe in größeren Verbunden anzustreben.
3. Häufiges Umpaaren hilft beim identifizieren der "vererbungsstarken" Tauben. Und nur mit diesen sollte man bevorzugt weiterarbeiten.

Darüber hinaus war ich aber insbesondere von Günter Prange beeindruckt. Allem voran, weil er sich mit seinen Aussagen zurückgehalten hat, selbst wenn manche Aussage von Harry Tamsen an der einen oder anderen Stelle geradezu zum Widerspruch eingeladen hat. Doch was er gesagt hat, hatte Gewicht. Insbesondere, finde ich, ist seine Äußerung hervorzuheben,
dass der Charakter eine extrem wichtige und im übrigen vererbliche Eigenschaft von Tauben ist, die bei der Selektion Berücksichtigung finden muss, denn er macht die wirklich gute Taube aus. Ich für meinen Teil fasse unter diesem Begriff solche Dinge wie Neugierigkeit, Lernfähigkeit, Revierverhalten und Brutverhalten zusammen. Mit dem Wort "Dickköpfigkeit", dass Harry Tamsen an dieser Stelle ins Spiel brachte, kann ich persönlich jedoch nicht so viel anfangen, da ich es schwer finde Dickköpfigkeit und mangelndes Lernvermögen sauber zu trennen. Auch weitere Hinweise von Günter Prange fand ich sehr wertvoll, wie z.B. dass man seinen Bestand nicht aufblähen sollte, damit man nicht den Überblick, das Zuchtziel aus den Augen verliert und dass Geduld sehr wichtig ist und dass vieles auch bei ihm einfach nur Glück war.


Kritikfähigkeit erhalten
Aber wie bereits erwähnt, der Artikel ist auch deshalb sehr gut, weil er deutlich zeigt, dass wir die Informationen, die wir über unseren Sport von Anderen erhalten, immer kritisch prüfen müssen, selbst wenn diese von solchen Züchter-Ikonen stammen.

Konkret:
Harry Tamsen ist sehr generalisierend in manchen Aussagen, seine lange Erfahrung, wohl auch seine Erfolge mögen ein Anlass dafür sein. Aber sicher auch, da dass Gehirn des Menschen immer froh ist, wenn es Muster im Chaos erkennt, an die es sich halten kann. Und wenn ein Muster für uns plausibel ist, so stellt es für uns die "Realität" dar unter die wir vieles Einordnen, selbst wenn das nicht immer logisch und dadurch in der Folge auch nicht immer richtig ist.

So ist die erste Aussage Harry Tamsens, dass Durchschnittstauben mit sehr guten Tauben verpaart praktisch nie etwas sehr gutes ergeben, sicher aufgrund seiner Erfahrungen und Beobachtungen vieler Züchter entstanden, die er im Laufe der Jahrzehnte kennenlernte, und ist daher wertvoll. Doch ist seine Begründung, dass dieser Effekt wohl maßgeblich an der Inzucht schlechter Tauben liegt, die viele Züchter betreiben, ist nicht schlüssig. Es könnte ein Grund sein, wenn es so wäre, dass viele schlechte Züchter zu lange Inzucht im "eigenen Sud" betreiben würden. Doch müßten dann schon erhebliche Inzuchtgrade bei diesen Züchtern erreicht sein, damit diese Begründung greift. Aber tatsächlich versuchen doch auch die Erfolglosen immer wieder Neues einzuführen, nur eben erfolglos.

Dabei bietet die Populationsgenetik ein sehr gutes Erklärungsmodell für Tamsens Beobachtung und noch dazu ein wissenschaftlich belegtes! Bei den Leistungseigenschaften handelt es sich im wesentlichen um quantitative Eigenschaften, die durch ein Ansammeln von möglichst vielen guten Genen (fast immer sind dies rezessiv vererbte Allele
[Allel <-> Bezeichnung einer Genvariante] ) gesteigert werden können (siehe hierzu auch frühere Blogartikel dieser Reihe). Ein rezessives Allel kommt nur zur Wirkung, wenn es reinerbig, also auf jedem der beiden Chromosomen eines Chromosomenpaares auftritt.

Der zerstörerische Einfluß des Mittelmaßes
Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Allel reinerbig (homozygot) in einer Population auftritt, hängt natürlich von der Häufigkeit dieses Allels in dieser Population ab, in der ich Paarungen zusammenstelle. Wenn die Population gut gemischt und groß genug ist, kann man den Zusammenhang zwischen der Häufigkeit eines Allels und seiner Reinerbigkeit berechnen. Diese Berechnungsformel haben wir den Forschern Hardy und Weinberger zu verdanken. Und selbst wenn unsere Population nicht so pefekt gemischt ist, und relativ klein, gibt uns das Ergebnis dieser Berechnung dennoch einen guten Eindruck davon, wo hier das Grundproblem liegt:
Die rote Kurve zeigt, welcher Prozentsatz an Tieren ein Merkmal sichtbar zeigt, wenn wir ein einziges rezessives Allel betrachten. Wenn z.B. 50% aller Tiere dieses Allel in sich tragen, haben wahrscheinlich 25% aller Tiere dieses Allel reinerbig vorliegen und zeigen somit die zugehörige Eigenschaft. Erst bei über 70% Häufigkeit dieses Allels im Bestand zeigt wenigstens die Hälfte aller Tiere diese Eigenschaft.

Doch wir haben es ja mit vielen rezessiven Allelen zu tun, die eine Eigenschaft wie z.B. eine hohe Fluggeschwindigkeit bestimmen. Und wären es nur 10 Allele, die maßgebend für die besondere Qualität einer As-Taube wären, und diese 10 säßen auf 10 verschiedenen Chromosomen, so dass sie nicht "am Stück" vererbt würden, sondern unabhängig von einander, so folgt die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Tier alle Gene "wirken" können dem blaue Kurvenverlauf in der Grafik. Und der ist bemerkenswert!

Er zeigt, dass wir unter diesen, noch nicht einmal besonders schweren Rahmenbedingungen (es sind nämlich sicher mehr
als nur 10 Gene für eine As-Taube verantwortlich) eine Wahrscheinlichkeit von nur 0,1% haben nochmals so eine As-Taube zu züchten, selbst wenn alle Tauben in der Population alle diese wichtigen Gene mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% in sich tragen!! Selbst wenn bereits 70% aller Tauben diese wichtigen Gene tragen, lägen unsere Chancen auf eine As-Taube dieser Art bei gerade mal 2,8%. Hierdurch wird also sehr drastisch verdeutlicht, wie stark bereits eine nur geringe Verwässerung von sehr guten Erbanlagen in einem Bestand unsere Chancen auf guten Nachwuchs herabsetzen. Und genau deshalb darf man nur sehr sehr gute Ausgangstiere zur Zucht einsetzen und genau deshalb führt ein Einführen von Spitzentauben in eine Gruppe von mittelmäßigen Tauben praktisch nie zum Erfolg! Harry Tamsen hat absolut recht, nur aus einem ganz anderen Grund als er hier anführte.


Jährige Tauben und das Umpaaren
Eine andere, auch immer wieder zu lesende These ist es, dass aus jährigen Tauben besser gezogen wird, als aus älteren. In der mutigen Formulierung von Harry Tamsen wird hieraus sogar, dass bei den Spitzentauben eines Schlages mindestens ein Elterntier jährig war und dass die Eltern (Zitat) "nie" ähnlich gute Geschwister gebracht haben. Nun auch hier schlägt die Freude über eine durch Beobachtung gemachte Erfahrung Harry Tamsen wohl ein Schnippchen. Diese Beobachtung wird nicht nur zur Regel erhoben, sondern gilt schon gleich ausschließlich.

Als kritischer Taubenzüchter und Leser sollte man hier die Züchter-Ikone einfach ausblenden, und seinen Abstammungsordner aus dem Schrank holen:
Die Eltern des Rambo, einem Reise-As von van Dyck waren 4 und 5-jährig. Der Rambo brachte mit Het Laatje sowohl den Kannibaal als auch den Bourges. Beides Reise und Zucht-Asse. Hier waren die Eltern 2- und 5-jährig!
Der Stammvogel bei Joop Koch, der "Lichte Orleans" wurde 6.nat. As-Taube, sein Vater war 9-jährig, seine Mutter 2-jährig. Er selbst zog mit der "Dochter Belg" in fester Paarung über mehrere Jahre eine 1.nat As-Taube Kurzstrecke, eine 3. nat. As-Taube Mittelstrecke und eine 9.nat. As-Taube Mittelstrecke.
Die Eltern der Fieneke von Vervoort waren 4- und 3-jährig. Sie brachten aber auch noch die B-98-800, die bei Körner in Deutschland zu einer Topzuchttaube wurde.
König und Königin bei Andreas Drapa waren 4- und 5-jährig, als sie den 638 brachten, der 2002 1.As-Vogel in Deutschland wurde und sie waren schon 6- und 7-jährig, als sie mit dem 1020 einen weiteren 1.As-Vogel und Olympiasieger brachten.
Die Eltern des Figo von Reynaert waren bereits 7- und 4-jährig, doch brachten sie schon 5- und 2-jährig den Keizer, der ebenfalls 1.provinzielle As-Taube wurde und 14x1. Preise flog. Zudem brachten sie einige weitere Top-Zuchttauben, wie z.B. den "Kleine Figo" bei Bosua.
Die Autokoppel bei Bosua besteht aus zwei Tauben, die ebenfalls aus 6-,6-,5- und einer 4-jährigen gezogen wurden. Dieses Zuchtpaar brachte mehrere As-Tauben, wovon einige wie z.B. die Witkopje (bestes Jungtier NL) gezüchtet wurde, als die Eltern jeweils 5-jährig waren.

Ich will an dieser Stelle aufhören, sonst wird es langweilig, doch es ließe sich noch beliebig lange fortführen, wie jeder anhand von Abstammung berühmter Tauben selber nachvollziehen kann! Wie kann es also selbst bei einem so erfahrenen Züchter zu einer solchen Fehleinschätzung kommen? Nun ich glaube, so etwas passiert immer dann, wenn man sich statistische Effekte nicht bewußt macht. Im vorliegenden Falle: Fast alle Bestände haben einen großen Anteil an jährigen Tauben (oft die Hälte eines Bestandes). Daher ist es auch so, dass an sehr vielen Paarungen jährige Tauben beteiligt sind! Sie geraten also statistisch in Vorteil. Um sich ein Urteil zu bilden, muß man also nicht die Zahl der guten Tauben aus Paarungen mit jährigen Tauben beurteilen, sondern die Zahl solcher Tauben zunächst ins Verhältnis mit der Anzahl solcher Paarungen setzen. Und erst dann darf man diesen Quotienten mit dem entsprechenden Quotienten der Vergleichsgruppe vergleichen! Und wenn die jährigen Tauben eines Schlages nicht durch eine bessere Gesundheit im Vorteil sind, was bei einem durchweg gesunden Bestand nicht der Fall sein sollte, ist ganz klar zu erwarten, dass alle Altersgruppen in etwa gleich gut abschneiden, denn die Erbgesetze sind nicht altersabhängig (abgesehen von sehr , sehr seltenen Umwelteinflüssen auf das Erbgut, wie z.B. Mutationen oder Epigenetische Effekte)!

Und auch das seltene Auftreten von zwei Assen aus einem Paar ist doch wohl eher ein statistischer Effekt. Es ist eben schon selten, ein As aus einem Paar zu ziehen. Es ist noch einmal genauso selten, wenn ich ein zweites As aus dem selben Paar ziehe. Durch Umpaaren steigere ich aber diese Chancen nicht. Dies sagt uns die Populationsgenetik! Das Umpaaren ist davon abgesehen dennoch zur Identifizierung eines dominanten Vererbers sehr sinnvoll. Und hier würde ich Tamsen wiederum zustimmen.


Geschlechter vergessen!
An einer anderen Stelle verhaut es Harry Tamsen dann so richtig. Nämlich als er den weiblichen Nachkommen eines Vogels und den männlichen Nachkommen eines Weibchens unterstellt, sie würden jeweils 75% der Erbeigenschaften des jeweiligen Elterntieres führen. Natürlich ist das absoluter Blödsinn! Von den 40 Chromosomenpaaren des Tauben-Nachwuchses sind immer 40 Chromosomenstränge vom Vater und 40 Stränge von der Mutter.
Es zeigt aber sehr drastisch, wie sehr auch sehr gute und sehr erfahrene Taubenzüchter durch die einschläge Taubenliteratur und Überlieferungen zum Thema Zucht geprägt werden können. Immer wieder werden wissenschaftlich nicht haltbare Aussagen getätigt, die die Leistungseigenschaften bei Tauben im wesentlichen als geschlechtsgebunden vererbte ansehen (siehe auch meinen letzten Blogartikel).

Es gibt aber sogar einige Indizien dafür, dass die wesentlichen Leistungseigenschaften von Tauben NICHT geschlechtsgebunden vererbt werden! Wie ich zu dieser mutigen Aussage komme? Nun, mit "geschlechtsgebunden" ist ja gemeint, dass die Gene dieser Eigenschaften nur auf dem Z-Chromosom (davon trägt ein Vogel zwei, ein Weibchen eines) oder nur auf dem W-Chromosom (davon trägt einzig das Weibchen eines) vorkommen. Wenn es rezessive Eigenschaften wären, könnten diese Eigenschaften bei Vögeln nur Wirkung zeigen, wenn sie reinerbig vorliegt. Weibchen hingegen haben ja immer nur ein Z-Chromosom. Es kann also hier auch ein rezessives Merkmal welches auf diesem Chromosom liegt ausgeprägt werden, da ja der "Gegenpart" auf einem zweiten Z-Chromosom fehlt. In der Konsequenz hat dies Folgen auf die Häufigkeit, mit der so ein Merkmal zu tage tritt, es müßte sich nämlich bei Weibchen häufiger durchsetzen. Wenn nun wesentliche Leistungseigenschaften, welche rezessiver Natur sind, geschlechtsgebunden vererbt würden, müßten die Weibchen den Vögeln im Durchschnitt überlegen sein. Vergleicht man aber die AS-Punktzahlen der Bundes-AS-Tauben der letzten Jahre, so erkennt man jedoch, dass hier kein Unterschied in der Leistungsfähigkeit festzustellen ist!

Wenn aber nun wesentliche Leistungseigenschaften dominant und geschlechtsgebunden vererbt würden
(es braucht also nur ein Z-Chromosom oder nur das W-Chromosom Träger des Allels zu sein), würden sich diese dominanten Eigenschaften bei der leistungsbezogenen Selektion der Brieftauben bereits seit Jahrhunderten unterliegen bereits so stark durchgesetzt haben, dass nur noch sehr selten Brieftauben auftauchen sollten, die dieses Allel nicht besitzen. Denn jeder Nachkomme, der so ein Allel nicht besitzt, fällt ja direkt durch geringere Leistung auf und kann selektiert werden.


Die Sache mit den 75%
Durch Inzucht ist es jedoch sehr wohl möglich Tauben zu züchten, die 75% des Erbgutes ihrer Ahnen gesichert auf die Nachkommen übertragen. Dies ist nämlich bei einem Inzuchtkoeffizienten von 50% des jeweiligen Zuchttieres der Fall (siehe auch ältere Blogbeiträge zu diesem Thema)! Ihm müßte jedoch eine mehrfache extreme Inzucht vorausgegangen sein. So erreicht man diesen Inzuchtkoeffizienten zum Beispiel, wenn in drei aufeinander folgenden Generationen Voll-Geschwisterpaarungen vollzogen wurden. Diese Tiere enthalten dann konzentriert einen Genmix ihrer Ur-Eltern (also Ur-Vater und Ur-Mutter).

Ebenso stark könnte man die Gene dieser beiden Ur-Eltern konzentrieren, wenn man grob sechs Generationen hintereinander Halbgeschwisterpaarungen vollzieht, bei denen immer auf diese gemeinsamen Ur-Eltern in Linie gepaart würde. Dazu benötigt man 7 Halbgeschwister (1 von einem Geschlecht [auf seine Eltern hin, wird sich die Inzucht konzentrieren] und 6 vom anderen Geschlecht[pro Inzucht-Generation eins]) Diese 7 Halbgeschwister müßten also jeweils verschiedene Elterngegenstücke haben, sonst würde auch das Erbgut des zusätzlich mehrfach vorkommenden Ahnen "aufkonzentriert".

Und als dritte Alternative könnte eine grob 10fach wiederholte Rückpaarung von Kindern an ein und dasselbe Elterntier die Gene dieses einzelnen Elterntieres vergleichbar aufkonzentrieren. Ich bezweifle jedoch sehr stark, dass all diese Zuchtwege wirklich sinnvoll sind. Denn wir würden natürlich sehr stark Gefahr laufen, dass insbesondere auch alle schlechten Gene einer Taube übertragen und konzentriert würden. Zudem müßte in jeder Generation ja eine ausgiebige Zuchtprüfung erfolgen, so dass sich allein deshalb schon zeitliche Probleme ergeben würden. Und zu guter Letzt würde die Inzuchtdepression höchstwahrscheinlich recht früh ein Scheitern unserer Bemühungen besiegeln.

Und so ist der auch Hinweis von Günter Prange in diesem Artikel wiederum sehr wertvoll, dass man zur Erhaltung des Stammes ganz eng Paaren muß. Doch er weißt darauf hin, dass er bei aktuell z.B. 6 derartigen Inzuchtprodukten in seinem Bestand noch lange nicht davon ausgeht, dass auch nur ein einziger darunter ist, der die guten Eigenschaften weitervererbt. Sie alle müssen auf den Prüfstand! Und auch wenn ich ja schon an so vielen Stellen in meinem Blog vor dem Schluß von Äußerlichkeiten auf innere Werte einer Taube gewarnt habe: An dieser Stelle, bei der Auswahl von Inzuchtprodukten kann so ein Vorgehen hilfreich sein. Auch darauf weist Günter Prange in diesem Artikel hin.
Denn jedes Merkmal eines Stammtieres, das wir bei einem direkten Inzuchtnachfahren wiederfinden, signalisiert uns, dass zumindest der Chromosomenstrang, auf dem dieses Merkmal "sitzt" weitergegeben wurde. Und wenn wir Glück haben, sind es ja genau diese Chromosomenstränge, die ebenso die für die Leistung wichtigen Eigenschaften mit sich führen. Also wenn sehr viele Merkmale übereinstimmen, sind unsere Chancen besser, die Stammtaube "zu erhalten".

Dienstag, 9. Dezember 2008

Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 11)


Ich muss zugeben, ich bin ein Schnorrer. Alle paar Wochen schnorre ich die bereits gelesenen Exemplare der Zeitschrift "Die Brieftaube", die mein Vater noch regelmäßig bezieht. Für mich kam ein Bezug der "Zeitschrift für Brieftaubenkunde", wie sie sich traditionsbewußt auch heute noch nennt, seit meinem Wiederbeginn 2006 nicht in Frage.

Zum Einen, da ich sie ja so schön bei meinem Vater schnorren kann, zum Anderen, da sie leider ihrem eigenen Anspruch, eine brieftaubenkundliche Zeitschrift zu sein, nur selten gerecht wird. Zu häufig, insbesondere im Herbst verkommt sie zu einem Lobbyistenblatt der verschiedensten Lager im Verband, und auch die jährlich inhaltsgleichen Artikel zu Themen wie "Versorgung in der Mauser", "Vorbereitungen zur Zucht", "Versorgung und Behandlung der Jungtauben",... brauch ich nur in einfacher Ausführung, und nicht immer wieder aufs neue lesen.

Doch in der Nummer 45/08 überraschte mich ein Artikel mit dem Titel "Wie züchtet man richtig?" Und der Autor des Artikels schien akademisches Gewicht mit in die Waagschale zu werfen: Prof. Dr.-Ing. Gerhard Wächter. Nur hätte ich mir allerdings gewünscht, dass die Redaktion der Zeitschrift ihre Leser darüber aufklärt, ob die akademischen Titel des Autors im Zusammenhang mit einer Tätigkeit im Tierzüchtungsbereich erworben wurden, oder statt dessen z.B. im Bau chemischer Reaktoren. Eine solche Information wäre angesichts der Strahlkraft eines Professorentitels nicht gerade unwichtig, denn allzuleicht, könnte der Leser geneigt sein, seine Kritikfähigkeit über Bord zu werfen, da es sich ja schließlich um einen Professor handelt.

Nun, ich bin kein Professor, und in der Tat habe ich als Chemiker wohl über chemische Reaktionen mehr Ahnung, als über Tierzüchtung. Dennoch möchte ich ein paar kritische Anmerkungen zu diesem Artikel machen, da er ja einer der seltenen Artikel ist, die sich mit dem Thema "Züchten von Brieftauben" vor dem Hintergrund der Populationsgenetik befassen:

Zunächst einmal erkennt man in dem Artikel die akademische Arbeitsweise, wie sie z.B. an Hochschulen üblich ist: Schreibe nichts, für das du keine Quelle angeben kannst, oder das du nicht selber durch Forschung herausgefunden bzw. gezeigt hast. Als sehr positive Folge davon gibt der Autor dem Leser eine umfangreiche Liste von gut verständlichen Literaturstellen über die Züchtung von Brieftauben an die Hand, die alleine schon Lob verdient. Denn selbst, wenn nicht alle Literaturstellen auf dem letzten Stand der Dinge sein mögen, oder inhaltlich sogar mittlerweile widerlegt, so ist es immer ratsam, solche Dinge gelesen zu haben, damit man sich eine fundierte Meinung bilden kann.

Und so stellt der Artikel eine relativ gute Zusammenfassung mancher Thesen dieser Quellen dar, so dass auch ein lesefauler Mensch etwas davon hat. Doch vor dem Hintergrund, dass der Autor hier ein Professor ist und mit der Überschrift signalisiert, er wolle eine Antwort auf die Frage nach dem "richtigen" Zuchtweg geben, ist das blosse zitieren von zum Teil veralteten Quellen, die in der Mehrzahl keine wissenschaftlichen Arbeiten darstellen, sondern persönliche Meinungen der jeweiligen Autoren vertreten, eindeutig zu wenig.

Es ist sogar gefährlich, denn allzuleicht könnte der Leser seiner Antwort auf diese Frage den Status einer wissenschaftlichen Erkenntnis geben, die ja richtig sein muss, wenn schon ein Professor das schreibt. Seine Antwort auf die Frage aus der Überschrift (Zitat: "Reisetauben mit überduchschnittlichen Leistungen resultieren nach den Erfahrungen nur aus Kreuzungen in Linie gezüchteter Stämme"), und seine weiteren Aussagen zu geschlechtsgebundenen Effekten etc. sind jedoch tatsächlich in dieser Form alles andere als eine erwiesene allgemeingültige wissenschaftliche Erkenntnis und wiederum nur eine persönliche Meinung des Autors, die nur wenig mit dem tatsächlichen Stand der Erkenntnisse zu diesem Thema gemein hat.

Konkret:
Der Autor stellt sehr gut dar, dass Inzucht in Kombination mit entsprechender Selektion geeignet ist, Linien von unerwünschten Eigenschaften zu reinigen und andere gewünschte Eigenschaften zu verankern. Auch der Hinweis, dass bei der Kreuzung von zwei Inzuchtlinien die gewonnene F1 Generation (die direkten Kinder) als Hybride oft über eine Bastardstärke verfügen, die unter der Bezeichnung Heterosis-Effekt bekannt ist, entspricht sicher den Tatsachen. Und sein Hinweis, dass die Wege der Nutzgeflügelzucht wie z.B. das Halten und Führen von zwei getrennten Inzuchtlinien, die dann zur Züchtung von Gebrauchskreuzungen in der F1 Generation genutzt werden, für Brieftaubenzüchter kaum realisierbar sind, weil sie zu große Bestände erfordern, ist meiner Meinung nach sehr gut und sogar wichtig an dieser Stelle. Doch viele Schlußfolgerungen die der Autor zieht, sind leider auch aufgrund ihres Absolutheitsanspruches falsch.

Die Aussage, Heterosis würde nur auftreten, wenn mindestens einer der zwei in einer Paarung zusammenkommenden Stämme ingezüchtet wurde, ist falsch. Heterosis ist vielmehr ein allgemeiner Begriff in der Populationsgenetik, der die Leistungszunahme einer Zuchteigenschaft beschreibt, die beim Kreuzen (meist) nicht verwandter Linien oder Stämme auftritt. Wenn die Nachkommen einer solchen Kreuzung in der beobachteten Zuchteigenschaft über der Leistung der jeweiligen Eltern liegen, entspricht diese Mehrleistung dem sogenannten Heterosis-Zuwachs (siehe hierzu z.B. Comberg, Leibenguth und andere Lehrbücher der Populationsgenetik). Dass die elterlichen Linien ingezüchtet sein müssen, ist jedoch keine Voraussetzung für das Auftreten von Heterosis!

Heterosis ist vielmehr in der Zunahme der Heterozygozität des Genoms der Kreuzungskinder gegenüber den Eltern begründet. Diese tritt sicherlich bei der Kreuzung von ingezüchteten Linien oft auf, doch auch bei anderen Paarungen, wie z.B. dem "wilden kreuzen" völlig unverwandter Einzeltiere, die ihrerseits bereits aus derartigen Verpaarungen hervorgegangen sind, kann diese Zunahme auftreten. Ja, es ist sogar noch nicht einmal ausgeschlossen (wenn auch viel unwahrscheinlicher), dass sie bei der Verpaarung von miteinander verwandten Tieren auftritt.

Der Heterosis-Zuwachs hingegen fällt bei der Kreuzung von ingezüchteten Linien meist deutlich höher aus, als bei der Kreuzung von Tieren, die ihrerseits bereits Kreuzungsprodukte darstellen. Doch daraus läßt sich jedoch nicht schließen, wie es der Autor leider fälschlicher Weise tut, das die Leistung des Zuchtproduktes einer solchen Zwei-Inzuchtlinien-Kreuzung höher liegen muß, als die der "wilden Kreuzung". Warum? Nun, nicht der Leistungszuwachs ist die entscheidende Größe, sondern das absolute Niveau der Leistung. Durch Inzuchtdepression könnten die Inzuchtlinien beispielsweise in unserer beobachteten Eigenschaft im Laufe der Generationen von 100 auf 90 "Qualitätspunkte" abgefallen sein. Die Kreuzung der beiden Linien würde z.B. Nachwuchs mit 105 Qualitätspunkten bringen. Der Heterosis-Zuwachs wäre also mit 15 Qualitätspunkten erheblich. Doch könnte der Nachwuchs aus zwei nicht ingezogenen Eltern mit jeweils 100 Punkten ebenfalls bei 105 Punkten landen! Der Heterosiszuwachs wäre geringer, das Ergebnis jedoch gleich stark.

Und das dem tatsächlich so ist, wissen nicht nur alle gut informierten Taubenzüchter, sondern es zeigen auch die unzähligen Stammbäume von As-Tauben und Leistungsträgern. Man schaue sich z.B. nur die Stammbäume des Schlages Koopman an. Als Ausgangsbasis wurden hier im wesentlichen zwei in der Tat ingezüchtete Ausgangslinien gewählt: Janssen und van Loon Tauben. Und die Kreuzungstauben der F1 Generation, wie z.B. der Eric oder der Beatrixdoffer zeigten herausragende Leistungen. Doch dem Ansatz des Autors folgend sollte der Nachwuchs der F2 Generation und die Mehrzahl des Nachwuchses der späteren Generationen eine schlechtere Leistung bei Koopman gezeigt haben, da sie jeweils keine ingezüchteten Tauben sind. Tauben wie der Gentil, der Jacco und sehr viele andere sogar nationale As-Tauben bei Koopman beweisen bis in die Gegenwart das Gegenteil!

Also: Die Aussage des Autors, dass vorhergehende Inzucht und spätere Kreuzung besseren Reisetauben bringen, als andere Zuchtwege ist nicht nur wissenschaftlich nicht haltbar, sondern auch zigtausendfach durch die Praxis widerlegt. Für die Bastardstärke ist lediglich ein hoher Heterozygotiegrad wichtig, woher auch immer dieser kommen mag!

Darüber hinaus ist aber nicht allein Bastardstärke wichtig für eine sehr gute Reisetaube, sondern auch die hohe "Dichte" von guten Genen im Erbgut des jeweiligen Tieres. Denn es gibt Eigenschaften, wie z.B. die Vitalität (oder auch die Legeleistung bei Hühnern) die an der Bastardstärke hängen, und es gibt Eigenschaften, die dies nicht oder nur in geringem Maße tun, sondern an additiven Genwirkungen liegen.

Dies führt denn auch zum nicht auflösbaren Grundkonflikt in der Zucht von Brieftauben, der es so spannend macht und eine eindeutige Antwort auf die Eingangsfrage des Autors verhindert:
Für das konzentrieren von additiven Eigenschaften wäre eine hohe Anreicherung der entsprechenden positiven Gene wünschenswert, welches aber auch zu einer Zunahme von Homozygotie führen kann. Für die Bastardstärke ist hingegen eine möglichst hohe Heterozygozität des Genoms erstrebenswert.

Und so gibt es in der Folge auch in beiden "Welten", Inzucht und Kreuzung, hervorragende Zuchtpaare und Zuchttauben. So stellen der berühmte "Figo" von Reynaert oder die "Daisy" der Stieneckers starke Inzuchtprodukte dar, welche dennoch absolute Spitzenleistungen erbrachten. Hier hat die Inzucht wohl zur Anreicherung der positiven Gene geführt, ohne aber dabei rezessive negative Gene herauszuspalten (zur Homozygotie dieser zu führen). Dadurch ist eine Kreuzung dieser Inzuchtiere mit anderen, nicht verwandten Tieren, welche mögliche homozygote "Schadgene" wieder aufgehoben hätte, nicht nötig gewesen, um Top-Leistungen zu erzielen. Auf der anderen Seite ist der "Kleinen" von Vandenabeele ein absolutes Kreuzungsprodukt, und schon seine Eltern waren Kreuzungen. Er erbrachte selber schon sehr viele sehr gute Flieger, wie den Wittenbuik, den Turbo, den Picanol,... (was man ja auf die Bastardstärke seiner ebenfalls in Kreuzung gezüchteten Kinder zurückführen könnte), doch er und auch sehr viele seiner Kinder und Enkel wurden noch besserere Vererber, der Kleinen selbst könnte sogar einer der besten Vererber gewesen sein, die der Taubensport bis heute gesehen hat. Und dass, obwohl ihm und den meisten seiner Kinder direkt keine Inzucht vorausgegangen ist. Beim Kleinen waren also trotz der vielen Kreuzungen im Vorfeld die sehr guten Gene extrem konzentriert!

Glück und Zufall sind eben sehr wesentliche Faktoren in der Zucht sehr guter Reisetauben. Daher kann die "ideale" Zuchtstrategie nur eine sich stetig am Bestand und der Situation angepassende Strategie sein, die auf die Mittel Kreuzung und Inzucht zurückgreift, ohne sklavisch an nicht fundierten Schemata festzuhalten.

Über all dieses hinaus verweist der Autor mehrfach auf geschlechtsgebundene Effekte, in dem er z.B. schreibt: "Die Täubin ist entscheidend". Und er führt das "Bruce Lowe'sche Gesetz" an, bzw. verweist auf Vansallen, der dem Wechsel zwischen den Geschlechtern bei einer Zuchtlinie eine Bedeutung zumisst. Alle drei Punkte sollten ebenfalls nicht unkommentiert bleiben:

Bruce Lowe, ein Australier, der im 19. Jahrhundert die Pferdezucht durch die Einführung des Familiennummersystems strukturiert hat, hat ein Schema formuliert in dem er vorschlägt, wie bei Pferden Familienzucht betrieben werden sollte. Dieses Schema zum "Gesetz" zu erheben, das darüber hinaus auch noch Gültigkeit bei Brieftauben haben soll, ist nicht nur nicht nachzuvollziehen, sondern sehr unwissenschaftlich.

Der Autor postuliert, dass aufgrund der Tatsache, dass das Geschlecht bei Vögeln durch die Weibchen übertragen wird, zur Erhaltung der Eigenschaften eines Stammtieres in die Mutterlinie zurückgepaart werden müsse. Verständlich wird diese Äußerung, durch den späteren Verweis auf Vansallen. Jedoch geht es hierbei nicht um die Frage, ob bestimmte Chromosomen überhaupt auf die Nachfahren übertragen werden, sondern um die Frage, ob man dem Übertrag eines der beiden väterlichen Z-Chromosomen nach der Paarung gesichert "folgen" kann.

Bis heute ist nicht geklärt welche und wie viele
Gene auf den geschlechtsbestimmenden Chromosomen der Taube sitzen, und es stellt nur eines von insgesamt 40 Chromosomen im Genom jeder Taube dar. Nach dem Unabhängigkeitsgesetz Mendels werden alle anderen 39 von 40 Chromsomen unabhängig von diesem einen vererbt. Welchen Sinn sollte es also machen eine Zuchtstrategie auf nur einem Chromosom von 40 auszurichten? Die Aussage, dass das Zurückpaaren in die Mutterlinie notwendig sei, um die (man beachte die allgemeine Formulierung!) Eigenschaften eines Stammtieres zu erhalten, ist sachlich falsch! Auf allen 40 Chromosomen der Tauben sind Eigenschaften kodiert und da nützt es nichts insbesondere das Geschlechtsbestimmende zu "verfolgen", denn von den anderen 40 Chromosomen des Stammtieres werden bei jeder Paarung bestimmt einige auf der Strecke bleiben.

An dieser Stelle zitiert der Autor darüber hinaus Vansallen (von dessen sehr guten Büchern und Artikeln ich übrigens ein großer Fan bin). Doch in der zitierten Quelle unterlag auch Vansallen der Versuchung bei der Konzentration auf die Nachvollziehbarkeit der Vererbung des Z Chromosoms die anderen 39 Chromosomen ausser Acht zu lassen. Auf diesen Umstand weist der Übersetzer Dr. Arno Meyer aber in diesem Buch ausdrücklich hin, um eben diese Aussage Vansallens zu relativieren. Kann es sein, dass Herr Prof. Dr.-Ing. Wächter dies absichtlich überlesen hat, da es seiner Argumentationsfolge nicht dienlich gewesen wäre?

Und abschließend sind geschlechtsgebunden vererbte Leistungseigenschaften meines Wissens bei Brieftauben bis heute weder indentifiziert, noch nachgewiesen worden. Und so kann ich nur empfehlen, die Geschlechterfolge bei der Paarung nur als ein Hilfsmittel zu Nachverfolgung eines väterlichen Z-Chromosoms zu sehen. Nicht mehr und nicht weniger. Ebenso könnte man das Auftreten einer anderen dominanten Eigenschaft (z.B. der Schimmelfärbung) zur "Verfolgung" des Chromosomenstranges nutzen, auf dem das Gen hierfür sitzt. Was soll so etwas bringen, solange unbekannt ist, welche anderen Eigenschaften noch auf dem "verfolgten" Chromosom sitzen? Im Einzelfall mag die eine oder andere beobachtete Kopplung einer gewünschten Leistungseigenschaft mit der verfolgbaren Eigenschaft eine Hilfe sein, doch darf und kann man keine allgemeingültige Zuchtstrategie hierauf aufbauen!

Somit sollten Leser des Artikels von Herrn Prof. Dr.-Ing. Wächter sich die Zucht in Zukunft nicht schwerer machen, als sie ohnehin schon ist, und den Geschlechterwechsel bei der Verpaarung nicht ins Zentrum ihrer Zuchtbemühungen rücken. So etwas spielt, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle bei der Züchtung sehr guter Tauben. Und "Bruce Lowe" ist eine Meinung eines Pferdezüchters ohne Beleg, mehr nicht!



Noch ein Hinweis der ebenfalls zum Thema passt: An mancher Stelle (nicht im erwähnten Artikel) wird Wert auf die sogenannte Mutterlinie bei Tauben gelegt. Begründet wird dies durch Erbsubstanz, die sich nicht im Zellkern befindet, sondern in den Mitochondrien. Diese Erbsubstanz wird immer, und
zwar vollständig und unverändert, nur von der Mutter auf alle ihre Kinder übertragen. Dadurch führen alle Tauben die mitochondrale Erbsubstanz der Weibchen, die bei der klassischen Stammbaumdarstellung an der untersten "Kante" auftauchen. Es bleibt die Frage, ob man dieser Tatsache wesentliche Bedeutung zumessen sollte in der Zucht von Brieftauben, indem man versucht, bestimmte mitochondrale Erbsubstanz im Bestand zu erhalten.

Bis heute ist kaum etwas über die Funktionen der mitochondralen Erbsubstanz bekannt. Sehr umfangreich ist der genetische Code dort aber im Vergleich zum Zellkern nicht. Doch selbst wenn diese direkte Auswirkungen auf die Leistungseigenschaften einer Taube haben sollte, ist nach Jahrhunderten der Brieftaubenzucht und deren Selektion auf Leistung nicht zu erwarten, das wir heute noch "schlechter" mitochodraler Erbsubstanz einer Brieftauben begegnen. Bei jeder heute existierenden Taube wird man auf dieser untersten "Kante" des Stammbaumes irgendwann in der Vergangenheit (und sei es vor 30 Generationen!) auf eine herausragende Reisetäubin oder eine herausragende Zuchttäubin treffen. Und eben ihre mitochondrale Erbsubstanz konnte ja so "schlecht" nicht gewesen sein, und findet sich damit heute unverändert (von sehr selten auftretenden Mutationen einmal abgesehen) im Erbgut der betrachteten Gegenwartstaube.

Also, ich persönlich kann keine Notwendigkeit erkennen, auf die mitochondrale Erbsubstanz mehr Aufmerksamkeit, als auf alle anderen Gene zu legen. Nein, ganz im Gegenteil: Aufgrund der sehr hohen "Stabilität" dieser Erbsubstanz über -zig Generationen hinweg und der jahrhunderte langen Selektion, sehe ich bei Brieftauben sogar viele berechtigte Gründe, sie unberücksichtigt zu lassen.



Vielleicht wäre ein fachkompetentes Redigieren solcher Artikel, wie dem von Prof.Dr.-Ing. Wächter vor dem Abdruck z.B. durch Hr. Dr. Kamphausen oder Universitäten, mit denen der Verband in Sachen Forschung in Verbindung steht, für die Zukunft sinnvoll, damit derartig sachlich falsche, aber nach wissenschaftlicher Erkenntnis aussehende Artikel vermieden werden können. Und wenn dann noch häufiger wirkliche Fachartikel zum Thema Tauben erscheinen, könnte ich mir sogar vorstellen, irgendwann einmal "Die Brieftaube" nicht länger bei meinem Vater zu schnorren, sondern selber zu beziehen.